Was seit den 60er Jahren Theorie war, ist nun bewiesen. Physiker am Teilchenbeschleuniger in Genf sind sich sicher, den letzten der 17 Bausteine der Materie nachgewiesen zu haben. Ohne das Higgs-Teilchen wäre die Welt nicht, wie sie ist.

Genf - Dies ist wohl die erste internationale Konferenz, die über Kontinente hinweg per Video eröffnet wird“, sagt Rolf-Dieter Heuer. Die Konferenz der Teilchenphysiker findet in Melbourne statt, doch Heuer zieht es vor, die Neuigkeit vom Sitz des Forschungszentrums Cern bei Genf aus zu verkünden, das er leitet. Dann treten zwei seiner Mitarbeiter vor und nach ihren Vorträgen brandet Applaus auf wie bei einem Rockkonzert. Der im Publikum sitzende schottische Physiker Peter Higgs wischt sich Tränen aus den Augen. „Ich hätte nicht gedacht, dass es noch zu meinen Lebzeiten passiert“, kommentiert der 83-Jährige.

 

Was ist passiert? Am großen Beschleuniger des Cern, dem LHC, haben Physiker ein neues Teilchen entdeckt. Höchstwahrscheinlich handelt es sich dabei um das seit Jahrzehnten vorhergesagte Higgs-Teilchen, in der Öffentlichkeit auch als „Gottesteilchen“ bezeichnet. Zwar mögen Physiker diese Bezeichnung nicht, doch sie betont die wichtige Rolle des Partikels als Baustein des Universums. Ohne das Higgs-Teilchen würde die Welt, wie wir sie kennen, nicht existieren.

Die Wissenschaftler geben sich zurückhaltend

Das Higgs-Teilchen ist der letzte der 17 Bausteine der Materie, der noch nicht im Experiment nachgewiesen worden war. Obwohl sich die Wissenschaftler des Cern offiziell zurückhaltend äußern, da noch weitere Daten für die eindeutige Identifikation als Higgs-Teilchen gesammelt werden müssten, sprechen Physiker schon von der spektakulärsten Entdeckung eines Teilchenbeschleunigers seit Jahrzehnten. „Als Laie würde ich sagen: wir haben es!“, sagt Heuer. „Wir sind dem Traum der Menschheit, zu verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält, ein wichtiges Stück nähergekommen“, kommentiert Thomas Müller vom Karlsruher Institut für Technologie, der am Bau des CMS-Detektors beteiligt war. An diesem Detektor und einem zweiten, Atlas genannt, ist das Higgs-Teilchen registriert worden.

Unter dem Unwissen, das Goethes Faust noch frustrierte, müssen Teilchenphysiker schon lange nicht mehr leiden, denn sie haben mit dem sogenannten Standardmodell der Elementarteilchen eine Theorie entwickelt, die die Grundbausteine der Materie und die Kräfte, die zwischen ihnen wirken, schlüssig beschreibt. Peter Higgs fügte in den 60er Jahren das nach ihm benannte Teilchen hinzu, um ein theoretisches Problem zu lösen: Wie können Elementarteilchen eine Masse besitzen, obwohl sie keine räumliche Ausdehnung haben, also punktförmig sind? Die Antwort von Peter Higgs war, eine Sorte Teilchen einzuführen, die dafür sorgt, dass die anderen Teilchen auf ihren Wegen gebremst werden – wie ein Prominenter, der beim Betreten eines Saals sofort von Menschen umringt wird, die ihm die Hand schütteln wollen. Mit diesem Aufhalten ist der Mechanismus zu vergleichen, der einige Elementarteilchen schwer werden lässt.

Higgs-Teilchen sind allgegenwärtig

Für den Nachweis des Higgs-Teilchen fahren Forscher mit dem LHC das schwerste Geschütz auf, das sie haben. Zwar sind Higgs-Teilchen allgegenwärtig, doch jedes einzelne von ihnen taucht aus dem Nichts auf und verschwindet gleich wieder darin, ist also für physikalische Messungen nicht beständig genug. Erst mit viel Energie können die geisterhaften Teilchen zu real nachweisbaren Partikeln gemacht werden.

Zwar schleuderten schon frühere Großgeräte wie der Beschleuniger Tevatron bei Chicago Partikel mit solcher Wucht aufeinander, dass bei den Kollisionen auch Higgs-Teilchen entstanden. Doch weil die Higgs-Teilchen schnell zerfallen, können sie nur indirekt nachgewiesen werden, indem man nach typischen Zerfallsprodukten wie Elektronen oder Photonen sucht. Letztere treten aber auch beim Zerfall anderer Teilchen auf. Daher müssen die Physiker Daten sehr vieler solcher Zusammenstöße auswerten, bevor sie sicher sein können, dass die registrierten Elektronen und Photonen wirklich von einem Higgs-Teilchen ausgegangen sind.

Schnelles Ergebnis nach nur wenigen Monaten

Die Kollisionen im Beschleuniger LHC bei Genf haben dreimal mehr Energie als die im Tevatron, es entstehen deshalb deutlich mehr Higgs-Teilchen. Am LHC konnten daher binnen weniger Monate Betriebszeit so viele Daten gesammelt werden, um zu der jetzigen Zuversicht zu kommen. Die jetzt präsentierten Ergebnisse kommen einige Monate schneller als erwartet: „Der Beschleuniger leistet viel mehr als das, wofür er designt worden ist“, sagt Fabiola Gianotti, die Leiterin des Detektors Atlas.

Für die Physiker ist eine Zahl von besonderem Interesse: die Masse des Higgs-Teilchens, die – wie in der Physik üblich – als Energiemenge angegeben wird. Das Higgs-Teilchen ist etwa 125 Gigaelektronenvolt schwer und damit das schwerste aller Elementarteilchen. Zum Vergleich: das Proton aus dem Inneren eines Atomkerns, das selbst kein Elementarteilchen ist, weil es aus drei Quarks besteht, bringt es nur auf ein Gigaelektronenvolt. Ein zweiter Versuch: das Higgs-Teilchen ist so massereich wie ein Atom Zinn.

Welche physikalischen Eigenschaften hat das Teilchen?

Das Datensammeln an CMS und Atlas geht nun weiter, um die physikalischen Eigenschaften des Higgs-Teilchens zu ermitteln. Es könnte sich herausstellen, dass das neue Teilchen noch ganz andere Aufgaben erfüllt als die, Elementarteilchen Masse zu verleihen. „Das fänden wir sogar spannender“, sagt Margarete Mühlleitner vom Karlsruher Institut für Technologie, auch wenn die jetzigen Daten nicht darauf hindeuten würden.

Mühlleitner gehört zu den Hunderten von deutschen Forschern, die durch experimentelle Arbeiten, theoretischen Berechnungen oder Analyse von LHC-Daten zur Entdeckung beigetragen haben. Sie spielt darauf an, dass die Entdeckung zu einer Physik führen könnte, die über das Standardmodell hinausgeht. Es gibt bereits eine Theorie, nach der mehrere Higgs-Teilchen existieren. Bloß jene Theorien, welche die Masse von Elementarteilchen ohne Higgs zu erklären versuchten, sind nun widerlegt. Matthias Neubert von der Uni Mainz sagt: „Die kann man jetzt getrost beerdigen.“