Reportage: Robin Szuttor (szu)


Andere bleiben dem Fach treu. Aus welchem Holz sind Mathematiker geschnitzt?


Man muss kein Genie sein. Durchschnittliche Intelligenz reicht aus, um Mathematik genüsslich zu betreiben. Man braucht sicher eine ausgeprägte Frustrationstoleranz. Mathematiker haben immer Probleme - intellektuelle Probleme - und verbringen die meiste Zeit damit, untaugliche Lösungswege zu verfolgen. Mathematiker sind Stuntmen fürs Komplizierte. Und eher introvertierte Menschen, die mit sich und ihren Gedanken alleine sein können. Laut polternde Partylöwen findet man in den mathematischen Instituten selten.

Sie beschäftigen sich seit Ihrer Studentenzeit mit "chaotischen Systemen" und der Mathematik des Zufalls. Wollen Sie unbedingt Ordnung in das Unvorhersehbare bringen?


Der Zufall ist nichts absolut Regelloses. Auch er hat seine Gesetze - und einige sind tief in unserem Unterbewusstsein verankert. Wer hundertmal eine Münze wirft und dabei 99-mal Kopf und nur einmal Zahl erhält, denkt instinktiv: da stimmt was nicht mit der Münze. Die Frage ist: sind zum Beispiel 70 Kopfwürfe noch okay, oder ist da auch schon was faul? Hier setzt die Stochastik an, die Mathematik des Zufalls.

Man hört, Sie sagen Börsenkurse vorher.


Aktienwerte hängen natürlich von den einzelnen Transaktionen der Händler ab. Trotzdem sieht die Dax-Kurve sehr irregulär und zufallsbestimmt aus - und verhält sich auch so, als stünde dahinter ein Zufallsprozess. Stellen Sie sich eine Skala vor: auf der rechten Seite würden die Planetenbewegungen stehen, die man auf Jahrhunderte vorausberechnen kann. Auf der linken Seite wären die Lottozahlen, die überhaupt nicht prognostizierbar sind. Das Wetter läge etwa in der Mitte, und die Aktienkurse wären in der Nähe der Lottozahlen angesiedelt. Aber etwas mehr rechts. Mit größerer Feineinstellung kann man nämlich Spurenelemente von Struktur erkennen.

Und die arbeiten Sie heraus?


Ja, mit komplizierten mathematischen Theorien. Die verwendet man dann, um etwas über Kursverläufe vorherzusagen.

Ohne jegliche Wirtschaftsdaten?


Rein mathematisch. Ich kann dann vorhersagen, dass zum Beispiel mit 70-prozentiger Wahrscheinlichkeit der morgige Schlusskurs in einem bestimmten Intervall liegt. Diese Prognosen haben eine gewisse Nützlichkeit für Wirtschaftsleute, die mit sehr großen Volumina in den Markt gehen. Für den Privatanleger sind sie ohne Belang.

Ihre Forschungsarbeit zu Warteschlangen in Supermärkten ist da näher am Menschen.


Die Warteschlangentheorie ist ein sehr interessantes Teilgebiet der Stochastik, weil sich gezeigt hat, dass eine gewisse Ähnlichkeit der pulsierenden Dynamik von Warteschlangen mit der Dynamik von Molekülen in Flüssigkeiten besteht. Diese sogenannte Brown'sche Bewegung wurde schon von Albert Einstein intensiv untersucht.

Dann kann uns Einsteins Theorie beim Einkauf helfen?


Seine Ergebnisse kann man durchaus für den Supermarkt nutzen. Dann zeigt sich, dass die amerikanische Warteschlange, wie sie etwa die Deutsche Post praktiziert, sehr effizient ist. Man stellt sich in eine meist sehr lange Schlange, die aber auch sehr schnell abgearbeitet wird. Dieser Schlangentyp besitzt eine größere Wartegerechtigkeit als Supermarktschlangen.