"Brücke, Bauhaus, Blauer Reiter": Die Stuttgarter Staatsgalerie zeigt erstmals die Kostbarkeiten aus dem Privatfundus von Max Fischer.
06.03.2010 - 09:39 Uhr
Stuttgart - Viel hatten die Kunstfreunde vor hundert Jahren noch nicht übrig für den deutschen Expressionismus. Erst recht kein Geld. Allzu große Summen hätte es dabei gar nicht mal gebraucht, denn für wenige Reichsmark waren die Arbeiten der Pinselrebellen Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel oder Franz Marc seinerzeit zu haben. Erst über ein halbes Jahrhundert später zogen spitzwinklige FKK-Mädchen und empfindsame blaue Pferde in ihrem Marktwert an. Da hatte der Stuttgarter Geschäftsmann Max Fischer seine hochkarätige Sammlung bereits weitgehend komplett. Und während Deutschlands Klassische Moderne ihren bis heute andauernden Preissteigflug begann, blieb der Sohn eines Tübinger Gastwirts auf dem Boden und lachte sich ins Fäustchen. Schon in den 1910er Jahren hatte der promovierte Chemiker erste expressionistische Blätter erworben.
Wie bei einem Privatfundus so üblich, bekam das breite Publikum diese Kostbarkeiten bislang nur vereinzelt zu Gesicht. Jetzt gewährt die Staatsgalerie erstmals umfangreichen Einblick in die Sammlung, die sie seit knapp zwei Jahren als Dauerleihgabe hütet. Auf den Besucher im Erdgeschoss des klassizistischen Altbaus wartet viel Unbekanntes, teilweise Überraschendes, aber nicht immer Überragendes.
Der einprägsam alliterierende Titel "Brücke Bauhaus Blauer Reiter" gibt die inhaltliche Gewichtung der Schau etwas schief wieder. Gehören doch allein zwei riesige Säle der Raumfolge einem einzigen Künstler: Ernst Ludwig Kirchner. Über hundert Gemälde, Zeichnungen und Druckgrafiken des Dresdner Vorzeige-Expressionisten trug Fischer im Laufe seines langen Sammlerlebens zusammen. Darunter seltene Kompositionen wie das "Schlafende Negermädchen" mit seinem blauen Haar oder das rote Interieur des "Stehenden weiblichen Akts am Tisch".
Kurz hinschauen, pinseln, fertig
Kirchner und das von ihm aus der Taufe gehobene Künstlerkollektiv namens "Brücke" überschritt 1905 den Rubikon zur heftigen Malerei. Bananengelbes Inkarnat und stürzende Perspektiven, kantige Körper und brennende Naturräume machten Schluss mit Kategorien wie "akademisch", "atmosphärisch" oder "lieblich". Davon zeugen in der Sammlungspräsentation neben Kirchners Voll- oder Halbnackedeis auch die Malermuse Fränzi, die sein Mitexpressionist Erich Heckel im Stehen oder Liegen wiedergab.
Minutiöse Modellstudien galten bei Kirchner und Co. als verpönt: Hinschauen und auffassen, ein paar Mal mit dem Pinsel beziehungsweise dem Kreidestift zucken und fertig - so porträtierten Expressionisten. Was mitunter auf Kosten der Ähnlichkeit ging. Kirchners Selbstporträt von 1916 etwa ist in seinem aufgekratzten Duktus wohl eher ein kodiertes Stimmungsprotokoll des Künstlers, der sich zur Entstehungszeit der Radierung in einer tiefen psychischen Krise befand. Acht Jahre später ging es ihm aber wieder besser, wie man aus dem Ölgemälde "Stehender Maler - Selbstporträt" ersehen kann. Klar umrissen steht er da in ganzer Leibslänge. Zwar von gelbgrünem Teint, doch edel und maßgeschneidert in dunkelblauem Zwirn gewandet. Ein bürgerlich gewordener Revolutionär, dem der Aufstieg zum Malerfürsten aber nicht mehr vergönnt war. 1938 erschoss sich Kirchner im Schweizer Exil.
Dass viele Kunstfreunde das nach 1920 formal beruhigte êuvre der Expressionisten insgesamt als schwächer bewerten, störte einen Max Fischer nicht. Er griff weiter zu. Besonders faszinierten den begeisterten Bergwanderer die Alm- und Alpenansichten aus Kirchners Spätzeit. Etwa die Davoser Gebirgszacken, über denen zitronenfarbene Wolken dahinziehen. Etwas von der wettergegerbten Urwüchsigkeit eidgenössischer Bergbauern fängt bereits das Doppelbildnis der "Brüder Müller" ein.
Feurige Damen, wenig Erwärmendes
Gegenüber der Brücke-Bruderschaft eher knapp repräsentiert sind die Künstler des "Blauen Reiter". Im Unterschied zu den vital-rotzigen Dresdner Kollegen stimmte die Murnau-München-Connection um Wassily Kandinsky bevorzugt leisere Töne an. Bestes Beispiel: der "Rote Hund", der auf Franz Marcs Vierbeineridyll von 1911 artig das Pfötchen hebt. Für ein schlüssiges Bild der Gruppierung reicht das aber nicht. Wohl auch, weil Fischers Geschmack stets dem Figürlichen anhing und sich für die radikalen Abstraktionen Kandinskys nicht so recht begeisterte.
Ähnlich dürftig bleiben die Stichproben aus der Bauhaus-Malerei. Neben den stereometrischen Menschenpuppen Oskar Schlemmers, der weihevoll im Apsidensaal inszeniert wurde, verdient höchstens noch Lyonel Feiningers "Segelpyramide" Erwähnung: Vor kristallin gebrochenem Lichthimmel reduziert der Deutschamerikaner eine Yachtpartie zur geometrisierten Dreiecksregatta. Erschreckend infantil jedoch wirkt in dieser Schau Paul Klees Collage "Ein Park und der Unbefugte".
Dafür entschädigen drei spannungsvolle Ölgemälde Max Beckmanns. Und der Eingangsraum mit druckgrafischen Werken Edvard Munchs. Früh identifizierte Fischers Kennerblick den Skandinavier als Wegbereiter des expressionistischen Holzdrucks. Oft schnitzte Munch seine halluzinatorisch verdichteten Angst- und Trauerszenen aus den Brettern kruder Tannenholzkisten heraus. Mit züngelnder Rothaarmatte und smaragdgrünem Giftblick lockt die allegorische Schönheit der "Sünde", als wirrbärtige Erscheinung schwimmt das Konterfei des Dramatikers Henrik Ibsen auf schwarzen Grund. Auch Holzschnitte wie die psychedelische Vision "Männerkopf in Frauenhaar" oder der erotische Fiebertraum "Im männlichen Gehirn" machen die Werkgruppe des Norwegers zum homogensten Teil der Schau.
Neue Aspekte erschließen sich nicht
In Zeiten, in denen sich die Sammleroligarchie lieber ihre persönlichen Bildertempel als Mausoleumsersatz baut, ziehen staatliche Museen nur noch selten private Kunstschätze dieses Kalibers an Land. Insofern hat der Hausherr Sean Rainbird allen Grund, sich über Fischers Vermächtnis zu freuen. Trotzdem wird das Ganze von der Staatsgalerie eine Stufe zu hoch gehängt. Neue Aspekte zur deutschen Avantgarde erschließen sich nicht aus der Kollektion, jedenfalls nicht in der von Ina Conzen besorgten kuratorischen Aufbereitung, die fachlich solide, aber doch ideenlos ist. Verborgene Raritäten findet der Besucher höchstens bei der Papierkunst, bei den Ölbildern fällt einiges allzu mittelmäßig aus.
Kirchners "Reitende Artilleristen" überzeugen in ihrer unfreiwilligen Schaukelpferd-Komik nur wenig, Mackes "Zwei Damen im Café" fehlt die leuchtende Farbmagie anderer Arbeiten des Künstlers, und auch für das pastos hingeschmierte Wellentreiben auf Emil Noldes "Herbstmeer XV" kann man sich nur schwer erwärmen. Zur Abdeckung dieser Brüche hat Conzen ein paar Unterstützer aus etabliertem Staatsgalerie-Besitz dazuhängen lassen, etwa Karl Schmidt-Rottluffs feurige "Akte im Schilf".
Landauf, landab wird insbesondere der Expressionismus museal zelebriert, so dass die Schau Schwierigkeiten haben wird, gegen die überregionale Konkurrenz zu bestehen. (Im April startet das Frankfurter Städel eine große Kirchner-Retrospektive.) Ob man die Stuttgarter Bilderparade, deren Exponate nach Ausstellungsende im Hause bleiben und teilweise in die ständige Präsentation integriert werden sollen, als echte Sonderschau bezeichnen darf, sei dahingestellt. Auf den konzeptuellen Aufbruch, wie ihn Rainbird einst bei Amtsantritt in der Staatsgalerie versprochen hat, warten wir immer noch.