Erzählen ohne Worte: Zum 100. Todestag blättert die Stihl Galerie Waiblingen Druckgrafik von Max Klinger auf.

Waiblingen - Womm! Mitten ins Gesicht trifft ihn der nackte Frauenfuß. Mehr als einen strammen Tritt hat der schmachtende Freier offenbar nicht von der Dame zu erwarten. Selbst wenn er bereit ist, dafür zu bezahlen. Schon die athletisch durchgebildete Beinmuskulatur der wehrhaften Liebesdienerin verrät, wer auf diesem Blatt von Max Klinger das stärkere Geschlecht ist. Und auf Stärke kam es an in einer Welt darwinistischer Daseinskämpfe, wie sie der Leipziger Künstler immer wieder abgebildet hat. Vor allem in seinen Radierungen. Deswegen ist der Titel „Liebe, Traum und Tod“ auch fast schon zu beschönigend für die Auswahl grafischer Blätter, mit der die Waiblinger Stihl Galerie Klinger zum 100. Todestag würdigt. Denn im Unterschied zu seinen Zeitgenossen aus Symbolismus und Jugendstil hat der 1857 geborene Leipziger nichts verklärt oder sich in problemfreie Paradiese hinausgeträumt. Vor allem in frühen naturalistischen Werken illustriert er mit Barrikadenkämpfen und Prostitution die sozialen Spannungen des neunzehnten Jahrhunderts. Doch auch die Antikenfantasien bleiben Dokumente brutaler Biologie, zum Beispiel in der Szene mit zwei den Kentauren, die sich eine erbitterte Keilerei liefern.

 

Von dem etwas zu unspezifischen Motto einmal abgesehen, kann man die Waiblinger jedoch nur beglückwünschen. Kuratorin Stephanie Buck macht diesmal nämlich alles richtig. Anstatt den Besucher umständlich für die drucktechnischen Mikrostrukturen begeistern zu wollen, konzentriert sie sich auf das, was den Künstler bis heute interessant hält: sein Talent, Geschichten ohne Worte zu erzählen. Bereits nach den ersten Werken fühlt man sich wie in einem alten, flackernden Horrorfilm. Der Stoff dafür aber entspringt der Wirklichkeit. So greift das Blatt über den ertrunkenen Jungen einen authentischen Fall auf. Eine Frau wollte gemeinsam mit ihrem kleinen Sohn Selbstmord begehen, weil sie keinen anderen Ausweg vor dem prügelnden Vater sah. Während sie selbst in letzter Sekunde gerettet wurde, kam das Kind um.

Totentänze der Belle Époque

Klingers Träume sind Alpträume, von großbürgerlichem Jugenstilwohlstandskitsch ebenso weit entfernt wie von modisch-dekadentem Kokettieren mit Vergänglichkeit. In den Totentänzen der Belle Époque holt sich der Sensenmann bevorzugt die Armen und Unterprivilegierten. Den hohlwangigen Moribunden in der schäbigen Dachkammer oder die zur Prostitution gezwungene Heldin aus dem Zyklus „Ein Leben“ von 1898. Vor allem eine Käthe Kollwitz fand hierin eine Bestätigung, ihren harten sozialkritischen Weg weiter zu verfolgen.

Der schärfere Psychologe von beiden ist allerdings Klinger. Ungeschönt schildert er Sexualität, auch Fetischismus und männlichen Masochismus (daher neben Elfen und Nymphen seine Obsession für Kraftweiber). Gesellschaftsanalysen verklammern sich mit einem Blick auf private Lebenslügen. Als Keimzelle des Selbstbetrugs erweist sich dabei oft die Ehe. Welche Konflikte hinter den Kulissen der wilhelminischen Wohlanständigkeit schlummern, veranschaulicht etwa der erschossene Liebhaber auf der Terrasse der Gründerzeitvilla. Doch sogar im fernen Garten Eden ist die bürgerliche Kernfamilie bedroht. Eva hockt in ihrem irdischen Paradies so weit entfernt von Adam, als hätten sich beide schon lange nichts mehr zu sagen.

Bis 26. April, Dienstag bis Sonntag 11 bis 18 Uhr, Donnerstag bis 20 Uhr