Der Musiker Max Rieger ist einer der kreativsten Köpfe der Stadt. Unter anderem mit seiner Band Die Nerven krempelt er gerade das Stuttgart-Image um.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Zumindest aus Sicht von „Spiegel Online“ taugt die Band Die Nerven nicht für ein neues Stuttgart-Image. Zwar macht das Stuttgarter Trio auch auf seinem Anfang des Monats erschienenen, dritten Album „Out“ ganz fabelhafte, lärmende Musik – das allerdings nicht wegen, sondern trotz der schwäbischen Herkunft, befand das Hamburger Nachrichtenportal und unterstellte allen anderen Stuttgartern „Gartenzwergigkeit“.

 

Max Rieger ist Gitarrist und Sänger von Die Nerven. Obwohl der gebürtige Deizisauer kein Lokalpatriot ist, liefert er die richtige Antwort auf den Spott von „Spiegel Online“: „In Hamburg und Berlin sind die Leute so sehr mit ihrer eigenen Geschichte beschäftigt ... Man redet nur über die eigenen Pläne, statt selbst was zu organisieren.“ Was ein Macher wie Rieger nicht gut findet. Sein Arbeitsprogramm im Herbst: Der 22-Jährige war gerade mit seinem Kumpel Levin goes lightly auf Tour, im November und Dezember tourt er mit Die Nerven durch Deutschland, Österreich und die Schweiz; im Oktober sind vier Tonträger erschienen, an denen er maßgeblich mitgewirkt hat, vier weitere kommen bis Jahresende.

Und immer hört man den Rieger-Sound

Rieger sitzt in seinem Altbau-WG-Zimmer im Stuttgarter Osten und raucht Kette. Der Raum ist mit Instrumenten, Tonbandgeräten, Gitarrenverstärkern und 18 Kartons vollgestellt, Inhalt: 1000 Die-Nerven-Platten. „Verkaufen wir alle während der Tour“, ist Rieger überzeugt. Schlägt ein Bein übers andere und zündet sich noch eine an. Max Rieger, der Bohemien. Klamotten: stilvoll verlottert, überwiegend schwarz, uralter Strickpulli. Klolektüre: Sartre, Beckett, Wilde. Phänotyp: Hüne, schelmisches Grinsen, beim Fotografieren fällt das Posieren mit Kippe nicht schwer.

„Ich sage immer: Ich habe noch nie gearbeitet“, erklärt Rieger, und natürlich ist das ein Witz. Der Mann ist ein Workaholic. Formal ist er an der Kunstakademie eingeschrieben („Das Studium langweilt mich“), de facto beschäftigt er sich ausschließlich mit Musik – als Solokünstler, in zig Bands und als Produzent; zuletzt erschien das von ihm wunderbar aufgenommene Album der Leipziger Band Fabian. Die Plattencover gestaltet er meistens gleich mit.

Und immer hört man den Rieger-Sound heraus. Der 22-Jährige liebt die Gegensätze: laut – leise, brutal – zärtlich. Dichter Klang, am Stück eingespielt statt Spur für Spur. Und: „Ich will, dass meine Musik jetzt gilt und in der Zukunft. Sie soll sich nicht an dem orientieren, was schon da war.“ Mit anderen Worten: Rieger (und die ihn umgebende Szene samt Lieblingstonmeister Ralv Milberg) sucht einen überzeitlichen Referenzsound. Der bisher keinen Namen hat. „Wie wär’s mit Stuttgarter Schule?“, fragt Rieger – angelehnt an die Hamburger Schule, deren Gitarrenpop von Bands wie Tocotronic geprägt wurde.

Musikalischer Botschafter Stuttgarts

Auch wenn „Spiegel Online“ es nicht wahrhaben will: Max Rieger ist ein musikalischer Botschafter Stuttgarts. Berliner Plattenhändler erzählen, dass einmal pro Woche jemand alle Die-Nerven-Platten verlangt. Unlängst wurde die Band mit dem Via-Vut-Award ausgezeichnet, dem „Grammy der ‚unabhängigen’, also kleinen Musikunternehmen“. Vom Popbüro, einer Einrichtung der regionalen Wirtschaftsförderung, gab’s den Music Award für die beste Musikproduktion. Das ist eine Ansage für eine Band, die sich im subkulturellen Gemisch des legendären Konzertwaggons am Nordbahnhof formiert hat.

Sind Die Nerven jetzt Establishment? Max Rieger überlegt kurz, grinst „Wenn es Schampus gibt, komme ich immer.“ Ernsthaft: „Wir haben uns nie angebiedert. Auf Cocktailpartys werden wir nie spielen, man muss uns schließlich aufmerksam zuhören.“ Die Preise habe man angenommen, weil sie die Musik auszeichnen. Und: „Wenn wir jetzt nicht nominiert worden wären, wann dann?“

Wer da ein bisschen Eitelkeit heraushört – okay. Vor allem ist Max Rieger ein bemerkenswerter Musiker. In der Schule war er der mit den Röhrenjeans und der wöchentlich wechselnden Haarfarbe. Weil er als Sechsjähriger am Klavier bockig war, stellten die Eltern – die Mutter Hebamme, der Vater Teppichhändler – auf stur, als der 14-jährige Max Gitarre lernen wollte. Also brachte sich Rieger alles selbst bei.

Wo sich die Szene (nicht mehr) trifft

Zur Gnade der späten Geburt gehört es, dass er anschließend lernte, wie man den Computer als Tonstudio benutzt. Seine ersten Tonspuren sang er am Headset ein. Heute sind Riegers beste Mikros so empfindlich, dass er damit in seinem WG-Zimmer nicht arbeiten kann: „Ist sonst nur Verkehrslärm auf der Aufnahme.“

Wo nimmt er dann auf? Wo trifft sich die Szene? „Weiß ich nicht, bin nur noch selten in Stuttgart.“. Mit dem Konzertwaggon sei der zentrale Anlaufpunkt weggefallen. Man treffe sich bei den Wagenhallen oder im Plattenladen Second Hand Records. Aber aus der Enge entsteht ja vielleicht erst kreative Energie. Der „Musikexpress“ kam im Frühjahr zu dem Schluss, Stuttgart sei das neue Seattle. Musikkenner denken da an das Label Sub Pop und Nirvana, also die Weltklasse der alternativen Neunziger-Jahre-Gitarrenmusik.

Max Rieger mag nicht so weit denken. „Ich weiß ja nicht, wie es in den Neunzigern in Seattle war. Aber angeblich hat sich das dort alles so entwickelt, weil da nie bekannte Bands gespielt haben. Also hat man halt selbst Musik gemacht.“ Das, gibt Rieger zu, ist in Stuttgart auch so: Die Szene besteht aus zwei, drei Dutzend Leuten, die in wechselnden Formationen zusammen spielen. Und jetzt, „Spiegel Online“, bitte herhören: „So etwas gibt es nirgendwo anders“, sagt Rieger.