Bei der vorgezogenen Wahl zum Unterhaus in Großbritannien muss Premierministerin May um ihre komfortable Mehrheit zittern. Und der Ausgang der Abstimmung gibt auch die Richtung für den Brexit vor.

London - Ein knappes Jahr nach dem Brexit-Referendum wählen die Briten seit Donnerstagmorgen vorzeitig ein neues Parlament. Damit treffen sie auch eine Richtungsentscheidung für den schwierigen Kurs beim EU-Austritt. Zehntausende Wahllokale in England, Schottland, Wales und Nordirland sollten noch bis 23.00 Uhr MESZ geöffnet bleiben - der Ausgang der Abstimmung war bis zuletzt zwischen Konservativen und Labour-Partei eng. Besonders in der Hauptstadt London zeigte die Polizei nach dem Terroranschlag mit mehreren Toten am vergangenen Wochenende während der Wahl mehr Präsenz.

 

Premierministerin Theresa May erhofft sich eine größere Mehrheit für ihre konservativen Tories - und damit mehr Rückendeckung für die Brexit-Verhandlungen mit Brüssel. Sie setzt auf einen harten Ausstieg und hatte in der Vergangenheit mit einem Scheitern der Gespräche gedroht. Der Wahlausgang wird mit entscheiden, wie gütlich sich die Briten nach mehr als 40 Jahren von der Staatengemeinschaft trennen.

„Jede Stimme zählt“, twitterte May wenige Stunden vor der Schließung der Wahllokale. „Zusammen können wir den besten Brexit-Deal sichern und ein stärkeres Großbritannien aufbauen.“ Zuvor hatte Labour-Chef Jeremy Corbyn geschrieben: „Labour wird ein Großbritannien aufbauen, das #FürDieVielen funktioniert, nicht die wenigen.“

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Prominente und Politiker riefen die rund 46,9 Millionen wahlberechtigten Briten am Donnerstag bis zuletzt zur Stimmabgabe auf. „Die Wahl heute ist so wichtig. Bitte nehmt euch die Zeit zu wählen“, twitterte Londons Bürgermeister Sadiq Khan.

Brexit-Kritiker Bob Geldof kündigte in einem Statement an, zum ersten Mal die Liberaldemokraten zu wählen. Diese hätten als einzige den Mut, der Regierung Kontra zu bieten, schrieb der irische Musiker. Bei vielerorts regnerischem Wetter konnten die Briten nicht nur in Schulen, Kirchen und Gemeindehallen ihr Kreuzchen machen, sondern etwa auch in Fitnesscentern, Münzwäschereien und sogar im Pub. Offizielle Zahlen zur Beteiligung gab es am frühen Abend nicht, 2015 hatte sie am Ende bei gut 66 Prozent gelegen.

Umfragen hatten May zunächst eine komfortable Mehrheit vorausgesagt. Zuletzt hatten ihre Konservativen in manchen Befragungen aber nur noch einen Punkt vor der Labour-Partei gelegen. Nach der jüngsten am Wahltag veröffentlichten Umfrage von Ipsos Mori für die Abendzeitung „Evening Standard“ hatte Mays Partei mit 44 Prozent der Stimmen dagegen acht Punkte Vorsprung vor Labour mit 36 Prozent.

Nach drei Terroranschlägen im Land innerhalb von drei Monaten war die Premierministerin mit Aussagen zur inneren Sicherheit in die Kritik geraten. Sie hatte erklärt, im Kampf gegen den Terror notfalls auch Menschenrechte einzuschränken.

Am Donnerstagvormittag gab May ihre Stimme in ihrem Wahlkreis in Maidenhead westlich von London ab. Corbyn wählte in seinem Londoner Wahlkreis Islington North. Der Altlinke spricht vor allem junge Menschen an. Er will die Kluft zwischen Arm und Reich verringern, die Bahn verstaatlichen und das Gesundheitssystem auf Vordermann bringen.

Corbyn gilt vielen aber auch als führungsschwach. Adrian Reed (57) gab ihm am Donnerstag seine Stimme. „Ich arbeite im öffentlichen Dienst und mache mir Sorgen um die Krankenversicherung, wenn die Tories Kürzungen im Gesundheitswesen vornehmen“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Simon Kitching (55) machte sein Kreuzchen demgegenüber bei den Konservativen. „Nur Theresa May ist momentan stark genug, dieses Land zu führen. Und sie wird auch den Terror eindämmen können. Ich bin mir sicher: Mit ihr wird es uns gut gehen - auch nach dem Brexit. Wir werden uns damit arrangieren.“

EU-Kommission äußert sich nicht zur Wahl

Bei insgesamt 650 Abgeordneten im Unterhaus ergäbe sich rechnerisch bei 326 Stimmen eine absolute Mehrheit. Der künftige Premierminister wird jedoch wohl weniger Stimmen brauchen. Denn aus Protest nehmen die gewählten Vertreter der nordirischen Partei Sinn Fein ihre Sitze in Westminster traditionell nicht ein. Die katholisch-republikanische Partei hat einen festen Wählerstamm, 2015 holte sie vier Mandate.

Die EU-Kommission wollte sich am Donnerstag nicht zur Wahl äußern. Mit Blick auf die Brexit-Verhandlungen sagte ein Sprecher in Brüssel nur: „Wir sind bereit.“ EU-Politiker hatten die Hoffnung geäußert, dass ein eindeutiges Wahlergebnis die bis März 2019 terminierten Verhandlungen über ein Austrittsabkommen vereinfachen könnte. Kommt es zu einem Wahlsieg der Labour-Partei, dürfte sich der für die Woche ab dem 19. Juni anvisierte Beginn der Gespräche verzögern.

Der rechtspopulistischen Partei Ukip droht bei der Wahl eine schwere Schlappe. Im Parlament waren die EU-Gegner zuletzt nicht mehr vertreten, im März war ihr einziger Abgeordneter aus der Partei ausgetreten. „Die Konservativen werden vermutlich viele Ukip-Wähler abziehen“, sagte John Curtice von der Uni Strathclyde in Glasgow.

Für die Sitzverteilung im Unterhaus ist wegen des Mehrheitswahlrechts nicht nur das generelle Stimmenverhältnis entscheidend, sondern auch die regionale Verteilung der Stimmen. In den 650 Wahlkreisen gewinnt der jeweils dort an erster Stelle liegende Abgeordnete - die übrigen Stimmen entfallen und werden auch landesweit nicht berücksichtigt.

Gleich nach Schließung der Wahllokale sollte es am Donnerstagabend eine auf Wählerbefragungen basierende Prognose geben. Die Auszählung der Stimmbezirke dauert die ganze Nacht. Zwar dürfte sich dann schon ein belastbarer Trend abzeichnen, das Endergebnis der Wahl liegt aber erst am Freitagnachmittag vor.