Premierministerin Theresa May hat sich die Zustimmung ihres Kabinetts für den Entwurf des Brexit-Abkommens gesichert. Es ist ein historischer Schritt, bei den Brexit-Verhandlungen.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - Einen neuen Grad an fieberhafter Spannung hat London im großen Brexit-Drama durchlebt – bis hin zum Augenblick, in dem Theresa May vor die Tür von No 10 Downing Street trat, um eine Erklärung zur „historischen“ fünfstündigen Kabinettssitzung vom Mittwoch abzugeben. Das Kabinett, so die Premierministerin, habe in einer „langen und leidenschaftlichen“ Debatte „kollektiv“ den in Brüssel erzielten Entwurf einer Austritts-Vereinbarung gebilligt.

 

Mit diesem Deal, fügte sie hinzu, könne der Brexit-Beschluss des Referendums von 2016 umgesetzt werden. Sie sei „fest davon überzeugt“, dass der betreffende Deal „im nationalen Interesse“ liege. Natürlich wisse sie, dass „schwierige Tage“ vor ihr lägen, bei der Verfolgung dieses Ziels.

Zeitungen sprachen von dem Tag der Abrechnung

Mays Auftritt war der Höhepunkt der neuesten turbulenten Phase beim Ringen um Brexit. Schon in den 24 Stunden vor der Kabinetts-Zusammenkunft waren Politiker aller Parteien aufgeregt durch den Palast von Westminster und durch sämtliche Fernsehstudios der Hauptstadt gehastet, um die neueste Lage zu bereden oder hitzige Kommentare abzugeben. Großbritanniens Zeitungen hatten diesen Tag als den „Tag der Abrechnung“ oder „die Stunde der Wahrheit“ charakterisiert. Gemeint war damit, dass May der Nation und ihren Kabinettskollegen zu guter Letzt „ihren“ Brexit-Deal vorstellte: Dass nach monatelangen zähen Verhandlungen mit der EU eine Vereinbarung zustande gekommen war, mit der nun eine zutiefst zerstrittene Regierungspartei fertig werden muss.

Wie eine Granate vom Kontinent war die Nachricht von der Fertigstellung des Brüsseler Vertragsentwurfs am Vortag an der Themse eingeschlagen. May-Loyalisten schlossen automatisch die Reihen um die Regierungschefin, während Tory-Hardliner, Nordirlands Unionisten und sämtliche Oppositionsparteien unverzüglich das Feuer eröffneten – auf die eigene Regierung, auf May. Von „Verrat“, von „Kapitulation“, von einem „verheerenden Verhandlungsergebnis“ war allenthalben die Rede.

Die Spannung war bis zuletzt sehr hoch

Kabinettsmitglieder „mit etwas Ehrgefühl“ müssten jetzt zurücktreten, falls es ihnen nicht noch gelinge, May von ihrem Plan abzubringen, meinte stellvertretend für viele Brexiteers der Hinterbänkler Andrew Bridgen. Blass hatten sich Mays Minister schon am Dienstagabend auf den Weg nach Downing Street gemacht, wo sie in einer Art diebstahlsicherem Tresorraum der Regierungszentrale den Text des Entwurfs zu lesen bekamen. Zugleich wurden sie in nächtlichen Einzelgesprächen von May und ihrem Stab über Details informiert und auf Loyalität eingeschworenen.

Als dann am Mittwochnachmittag alle Minister gemeinsam zur entscheidenden Sondersitzung des Kabinetts anrückten, war die Spannung mit Händen zu greifen. Immerhin hatten mehrere Kabinettsmitglieder vorab feierlich erklärt, einen Deal der Art, wie ihn May anstrebe, könnten sie nicht unterstützen. Insbesondere Arbeitsministerin Esther McVey und Entwicklungsministerin Penny Mordaunt hatten harte Töne angeschlagen.

May ihrerseits versuchte ihre Ministerrunde davon zu überzeugen, dass London an die Grenzen des Möglichen gestoßen sei bei den Verhandlungen. Einen besseren Deal als diesen, sagte sie, gebe es nicht. Das Problem mit dem Unmut einer Großzahl von Gefolgsleuten in ihrer Fraktion – den „Fußsoldaten“ – bleibt für May allerdings bestehen.

Bereits bei der wöchentlichen Fragestunde im Unterhaus am Mittwoch hatte sie eine Antwort auf die Frage, ob sich Großbritannien aus einer künftigen Zollunion mit der EU wieder in eigener Regie lösen könne, sorgsam vermieden. Die Reaktion darauf war abzusehen. Der Tory-Abgeordnete Peter Bone gab alle Zurückhaltung auf und fiel ihr offen in den Rücken. May, urteilte Bone scharf, liefere „nicht den Brexit, für den die Leute gestimmt haben“. Sie werde damit „die Unterstützung vieler Tory-Abgeordneter und von Millionen Wählern verlieren“.

Viele Gegner sprechen von Verrat und Kapitulation

Drei bis vier Dutzend Fraktionskollegen wissen die Anti-EU-Rebellen um Bone und Bridgen hinter sich, mit deren Hilfe sie bei der entscheidenden Parlaments-Abstimmung, eventuell im Dezember, den Deal zu Fall bringen wollen. „Falls die Offiziere das Ganze nicht stoppen“, grollte ein Tory-Hinterbänkler, „muss das eben die verdammte Infanterie tun.“

Wie hoch die Wellen der Leidenschaft gestern schlugen, noch bevor der Textentwurf überhaupt veröffentlicht war, ließ sich vielen zornigen Äußerungen entnehmen. Ex-Außenminister Boris Johnson, der neben dem Ukip-Vorsitzenden Nigel Farage das wichtigste Gesicht der Referendums-Kampagne von 2016 war, tönte erregt, Großbritannien sei durch Mays „vollkommen unakzeptable“ Zugeständnisse an Brüssel nun endgültig zum „Vasallenstaat“ geworden. Farage selbst erklärte, es sei „höchste Zeit“ dass die Tories Theresa May „loswürden“.

In der Tat spielen zornige Tory-Abgeordnete erneut mit dem Gedanken an einen Fraktions-Putsch in den nächsten Tagen. Nach Informationen der BBC von gestern Abend könnte ein Misstrauensantrag gegen May sogar schon am heutigen Donnerstag zustande kommen in der konservativen Fraktion. Mit größter Mühe suchte gestern Tory-Fraktionschef Julian Smith die Gemüter zu beruhigen. Die Premierministerin, sagte Smith, habe schließlich „Tag für Tag“ an der „wirklich praktikablen Lösung“ gearbeitet, die nun vorliege.

Der ehemalige Tory-Vorsitzende William Hague mahnte die May-Kritiker zur „Besinnung“. Falls sie diese Brexit-Gelegenheit jetzt nicht beim Schopf ergriffen, riskierten sie, dass es „zu überhaupt keinen Brexit“ komme am Ende. Das wäre vielen Oppositions-Politikern und auch einigen konservativen Pro-Europäern recht, die insgeheim hoffen, dass Mays Deal noch das Zeitliche segnet.