In Stuttgart hat Peter Konwitschny Luigi Cherubinis „Medea“ von 1797 als dunklen Reflex auf die lieblose Konsumgesellschaft unserer Tage inszeniert. Gesungen und gespielt wird auf hohem Niveau. Nur der Regisseur handelt sich für seine oft drastische Bildsprache einige Buhrufe ein.

Stuttgart - Die Musik schweigt. Wieder und wieder hat der Dirigent Alejo Pérez am Pult des Staatsorchesters die zahlreichen Fermaten und Generalpausen im großen Ensemble von Kreon und dem Volk von Korinth im ersten Akt derart ausgedehnt, dass ein lautes Klingeln hineinpasste, und laut johlend hat dann die bunte Partygesellschaft die Tür geöffnet und die bunten Pakete entgegengenommen, die für das Brautpaar angeliefert wurden. Geschenke, orange, rosa, riesig; der Verpackungsmüll rund um Kaffeemaschine, Topflappen und anderen Hausrat liegt später auch auf dem Netz, das man über den Orchestergraben gespannt hat. Sicherheitshalber. Jetzt aber, beim letzten Klingeln, ist Schluss mit lustig. Die Tür geht auf, und draußen steht, schwarz gewandet und mit ikonografisch gewordenem rotem Haar: Medea.

 

Medea spricht. Sie singt nicht. Verdammt, mag der gemeine Opernbenutzer denken, da hat Luigi Cherubini im Jahr 1797 aber richtig was falsch gemacht. Da hat der Komponist, den (nicht nur) Beethoven und Brahms („das Höchste in dramatischer Musik“) verehrten, eine riesige Chance verpasst. Eine flammende, wilde Rachearie hätte hier doch hingehört, unbedingt, eine Arie, die den zuvor herrschenden freundlichen Singspielton gebrochen und die stumpfe Banalität der terzensatten chorischen Gleichstimmigkeit entlarvt hätte. Erst später, als sich die Geschichte um die liebende Mörderin in all ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit entfaltet, merkt man, wie klug Cherubinis Verzicht war: weil er mitnichten eine Frau darstellen wollte, die sich auf ihre Rache reduzieren lässt. Medea liebt – ihre Kinder ebenso wie den Mann, der sie um einer Jüngeren willen verstößt, aber immer noch in seinem Herzen trägt. Und Medea ist eine Außenseiterin, eine Fremde, die sich danach sehnt, dazuzugehören. Die Gesellschaft gibt ihr aber keine Chance, und das Stück beschreibt nicht den Endzustand einer verzweifelten Rache, sondern den verwinkelten Weg dorthin.

Duette als Szenen voller Widersprüche

Genau dies hat der Regisseur Peter Konwitschny im Textbuch gelesen, das hat er in Cherubinis Musik gehört, und so hat er die beiden großen Duette von Medea und Iason als packende Szenen voller Widersprüche, voller Liebe, Hass, Wut, Verzweiflung und Verlangen gestaltet. Wie hier, nach der als schlichter Vertragsakt unter Männern geschlossenen zweiten Ehe Iasons, die Geschichte des ersten Paares Schlaglichter auf die Bedingungen der Gegenwart wirft (und umgekehrt): Darin dürfen wir den Kern der Inszenierung von Peter Konwitschny sehen. Politisch und psychologisch hat der Regisseur auf unsere Gegenwart hin zugespitzt, was er in der Vorlage gefunden hat, und dann hat er das Ganze derart als ebenso persönliches wie gesamtgesellschaftliches Anliegen ausformuliert, als wolle er jenes erschütternde Ende von Rilkes Gedicht „Archaischer Torso Apollos“ ins Bild setzen: „ . . . denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.“ Passender könnte man nicht sagen, was an diesem Abend zu sehen, zu hören, zu erleben ist.

Es ist die Gesellschaft, zeigt Peter Konwitschny, welche die Liebe zwischen Medea und Iason unmöglich macht. Es ist die Gesellschaft, die Medea ausgrenzt und die sie über die Grenzen des Erlaubten und Denkbaren hinaustreibt – und wenn es ein Mittel gibt, Katastrophen wie die in dieser Oper Gezeigten zu vermeiden, dann ist es die Veränderung des Volks, das hier als konsumgeile, saufende, verführbare, tumb mit Schlagstöcken gegen alles Fremde einprügelnde Masse gezeigt wird. Dass eine solche Veränderung möglich wäre: Das ist die Utopie des Peter Konwitschny, für die zu kämpfen der 72-Jährige selbst in Phasen großer Erschöpfung, die ihn zu Pausen und Absagen (auch in Stuttgart) zwangen, nie aufgegeben hat.

Ihr seid das Volk!

Deshalb lässt der Regisseur auch nicht ab von jenem eigentlich abgenutzten Mittel der zwischenzeitlichen Saalbeleuchtung: Ihr alle, will er zeigen, seid das Volk; ihr alle müsst eurer Leben ändern. Stellvertretend spielt der Staatsopernchor die Masse vom Junggesellinnenabschied Kreusas zu Beginn bis hin zur (vom Komponisten nicht vorgesehenen) Lynchjustiz an Medea, Iason und Neris im Finale so zwingend und so gut, und er singt mit so großer Kraft, dass das weiter gewordene Höhentremolo in der Soprangruppe nicht gar so schwer ins Gewicht fällt.

Die Solisten muss man allein schon deshalb bewundern, weil sie mit der schweren Hypothek des Abends zurechtkommen: In einer eigens erstellten, neuen deutschen Textfassung von Bettina Bartz und Werner Hintze, die nicht gänzlich frei ist von Verzwungenem, wird aus der „Médée“ eine „Medea“ mit (vom Regisseur in ziemlich heutige Sprache übersetzten) Sprechdialogen, in welcher das Singspiel stark dominiert – und dieses Singspiel verlangt den Sängern auch überzeugendes Sprechen ab. Man spürt nun zwar, dass dies nicht deren erste Qualität ist, man erlebt blasse Momente in – trotz Streichungen – anfangs oft länglich wirkenden Sprechszenen, findet die Akteure als Sänger gewiss stärker denn als rezitierende Schauspieler, muss aber aber auch die Professionalität bewundern, mit der sie sich zwischen den Extremen bewegen.

Der Tenor Sebastian Kohlhepp glänzt als Iason

Cornelia Ptassek ist eine glutvoll bis an die Grenzen ihrer Stimme (und in der Höhe gelegentlich über diese hinaus) singende Medea, Shigeo Ishino ein vom Spiel geradezu durchdrungener, sehr klar artikulierender Kreon, Josefin Feiler mit ihrer Beweglichkeit und mit dem ungefährdeten Glanz ihres Soprans die Idealbesetzung für die jungen Kreusa. Helene Schneiderman, immer noch technisch im Bestzustand, beweist in der Partie der Neris, dass eine grandiose Sängerdarstellerin wie sie selbst Nebenrollen groß machen kann. Und Sebastian Kohlhepp überzeugt als Iason mit enormem Detailreichtum in Stimmklang und Gestaltung: Dieser vielseitige Tenor, der zunehmend auch dramatische Bereiche für sich erobert, ist einer der ganz großen Glücksfälle im Ensemble.

Der Dirigent Alejo Pérez, dessen rasche Tempi in der Ouvertüre noch für Kollateralschäden bei Präzision und Koordination sorgen, hat dort seine überzeugendsten Momente, wo er den Sängern Raum lässt, wo er das Orchester dynamisch zurücknimmt und wo er sich der vielen subtil charakterisierenden Details in Cherubinis Partitur annimmt. Im Gegenzug fehlen manchmal der letzte Nachdruck, die letzte dramatische Wucht und der große Bogen. Im Gegeneinander von Singspielton und großer Operndramatik entscheidet sich Pérez meistens für Ersteres – was nicht unbedingt mit dem Ansatz der Regie konform geht. Muss es auch nicht, schließlich passt an diesem Abend vieles nicht zusammen; auch die Wahl der Farbe Schwarz für Medea und bunter Kostüme für den Chor widersprechen eigentlich sowohl der Partitur, deren Interesse vor allem der Titelfigur gilt, als auch dem Ansinnen des Regisseurs.

Von der Idylle in der Umweltkatastrophe

Über dem Orchester hat Johannes Leiacker eine Bühne gestaltet, die sich mit dem Heben des Hauptvorhangs – einer schönen Meereslandschaft – aus der Idylle heraus in ein schäbiges, in Schieflage geratenes Küchenkachelambiente und im Laufe des Stücks dann zunehmend in eine Umweltkatastrophe hinein begibt, deren Vermüllung so endzeitlich wirkt, dass eine Zukunft auf ihr eigentlich nicht vorstellbar ist. Auch deshalb erhalten Iasons zwei Kinder hier eine Kontur, welche die Partitur für sie eigentlich nicht vorsieht: Im ersten Akt übernehmen sie singend eine Brautjungfern-Partie, spielend (vor allem mit Pistolen und Leuchtschwertern) sind Johannes Rempp und Justus Laukemann vom Knabenchor Collegium Iuvenum ständig präsent, und wer wie Konwitschny zeigen will, dass es so nicht weitergehen kann in eine gute Zukunft, für den ist ihre Ermordung auf offener Bühne zwingend.

Zwingend ist auch das von der Regie gesetzte Massaker am Schluss, das sich bereits im wirkungsvoll von der Tontechnik mit Zusatzdonner bestückten Gewitter-Vorspiel zum dritten Akt ankündigte. Konwitschny, letzter Dinosaurier des politischen Regietheaters, lässt (auch das ist die Dialektik, die er liebt) Medea zum Tosen der Elemente in aller Gemütsruhe einen Apfel (!) verzehren – und greift im übrigen zu allen Mitteln, um aufzurütteln. Er zeigt sogar Oralsex zwischen Medea und Kreon, lässt Bilder von Neris’ Vergewaltigung durch den Pöbel aufblitzen, um die widerlichen Mechanismen einer patriarchalischen Gesellschaft bloßzulegen – und nimmt Buhrufe dafür in Kauf. Er legt den Finger in blutende Wunden unserer Zeit. Und glaubt fest an die Kraft der Kunst und daran, dass zumindest einige Zuschauer seine Bilder als Aufforderung verstehen. Man muss das nicht lieben. Aber man kann es tun. Und Cherubinis gut zwei Jahrhunderte alte Kunst so erleben, wie Rilke es tat: Du musst dein Leben ändern.