Durch die sozialen Medien kann sich jeder Mensch jederzeit informieren – aber auch selbst Informationen veröffentlichen. Falschmeldungen und Hass verbreiten sich in nie da gewesenem Ausmaß. Was bedeutet das für die Gesellschaft?

Leserredaktion : Kathrin Zinser (zin)

Stuttgart - Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen erforscht unter anderem den Medienwandel im digitalen Zeitalter. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer „Empörungsdemokratie“. Im Interview erklärt er, worum es dabei geht.

 
Herr Pörksen, was verstehen Sie unter dem Begriff „Empörungsdemokratie“ konkret?
Damit ist gemeint, dass jeder sich zuschalten, sich barrierefrei an die Öffentlichkeit wenden kann. Die Mediendemokratie alten Typs war geprägt von mächtigen Massenmedien mit maximaler Deutungshoheit. Sie konnten lange entscheiden und bestimmen, was überhaupt öffentlich wird, sie waren Agendasetter mit unbedingter Autorität. Das ist vorbei. Heute sind wir im Übergang – von der Mediendemokratie zur Empörungsdemokratie. Klassische Massenmedien sind immer noch wichtig, aber eben nicht mehr die einzigen Taktgeber der öffentlichen Welt.
Gab es die „Empörung“ nicht schon immer?
Völlig korrekt. Entscheidend ist aber: In der Empörungsdemokratie wird die Deutungsmacht der Weni-gen zu einem erbittert ausgefochtenen Meinungskampf der Vielen. Die Mittel, die eigene Position sichtbar zu artikulieren – diese Mittel liegen in den Händen aller. Das ist mediengeschichtlich neu.
Welche Rolle spielen Soziale Medien in Bezug auf die Empörungsdemokratie?
Sie liefern nicht nur wunderbare Möglichkeiten zur blitzschnellen Kontaktaufnahme und zur raschen Kommunikation, sondern sind auch Instrumente des Protests. Es sind Wutmaschinen, die sich einsetzen lassen, die Erregung zu steigern. Der sogenannte Shitstorm gegen Unternehmen, Politiker und Promi-nente illustriert dies. Plötzlich entsteht, getrieben von der Macht des Publikums, ein Sturm der Entrüstung – und man kritisiert Geschäftspraktiken, politische Positionen, Stellungnahmen gleich welcher Art. Zentral ist: Das einst passive Medienpublikum hat auf einmal Macht und Einfluss.
Können Sie ein Beispiel geben?
Gern. Ein neunjähriges Mädchen aus Schottland beschließt, dass es Journalistin werden möchte. Ihr Vater richtet einen Blog ein. Das Mädchen schreibt fortan über sein ziemlich entsetzliches Schulessen, postet die Bilder von grauenhaft verkochten Mahlzeiten, traurigen Kroketten, glasiger Dosenananas. In der Konsquenz greifen zahlreiche Medien die Geschichte auf und machen sie bekannt. Kinder aus allen Teilen der Welt schicken Beweisfotos ihres eigenen Schulessens. Das heißt: Ein neunjähriges Mädchen mit einer Idee hat hier im Verbund mit anderen ein Thema gesetzt – das Essen, das wir unseren Kindern zumuten.
Das klingt an sich postiv. Dennoch scheint das Internet voller Hasskommentare, Fake-News und gefühlter Wahrheiten zu sein. Wie lässt sich das erklären?
Ich sehe zwei Verbindungen. Zum einen: Wenn die alten Wahrheitsautoritäten, eben die klassischen Massenmedien, schwächer werden, dann ist auf einmal ganz viel gleichzeitig sichtbar – einerseits die relevante Information, andererseits Propaganda, schließlich das sinnfreie Spektakel. Diese Gleichzeitigkeit des Verschiedenen erleben wir momentan. Zum anderen kann man sich in diesen offenen Informationswelten anders bewegen; man kann seine eigene Gruppe finden, sein eigenes Selbst-bestätigungsmilieu. Das ist das Problem der Echokammer im digitalen Zeitalter. Man googelt sich, ohne Reibung mit der Agenda der Allgemeinheit, in seine persönliche Wirklichkeitsblase hinein – und kommt dann, vielleicht mit einer ganz bizarren Auffassung, zu der Annahme: Wir sind doch viele! Denn es gibt in meiner Facebook-Blase tatsächlich viele, die diese Ansicht vertreten. Das heißt: Minderheitenmeinungen können als gefühlte Mehrheitswahrheiten erscheinen.
In diesem Zusammenhang wird immer wieder über Algorithmen diskutiert, nach denen etwa Facebook seinen Usern Inhalte präsentiert. Müssen Unternehmen wie Facebook und Twitter ihre Algorithmen ändern?
Das wird so nicht passieren. Und: Personalisierte Algorithmen und Empfehlungsfilter haben ja durchaus auch Vorteile. Nötig ist jedoch zweierlei: Zum einen eine größere Transparenz der Plattformen, was die publizistischen Effekte der Algorithmen betrifft. Zum anderen eine gesellschaftliche Debatte über ihre verborgene Macht.
Wie wirkt sich diese neue Macht der Empörung auf den Alltag der Menschen aus und wie auf die Demokratie?
Das ist eine schwierige Frage, denn die neue Macht der publikumsgetriebenen Empörung ist doppelge-sichtig. Einerseits kann jeder sprechen. So werden durchaus relevante Themen bekannt und diskutiert – das ist die wirklich gute Nachricht. Die schlechte Nachricht lautet, dass es natürlich auch jede Menge Hass gibt, der plötzlich starke Verbreitung erfährt, im Extremfall ein Weltpublikum erreicht. Das heißt in der Konsequenz: In der entstehenden Empörungsdemokratie regiert ein Zustand der fortwährenden Erregung. Meine eigene Position ist eigentlich eine Hoffnung. Sie lautet, dass wir es bei den gegenwärtig erlebbaren Ausbrüchen von Wut und Hass mit einer Übergangsphase zu tun haben, gleichsam mit Wachstumsschmerzen der Mediengeschichte.
Woran machen Sie diese Hoffnung fest?
Das ist eine Haltungsfrage. Ich kann weder mit der Total-Euphorie der Netzutopisten, die von Schwarmintelligenz sprechen, noch mit dem Pauschal-Pessimismus der Netz-Kritiker, die stets nur vom digitalen Mob und dem Shitstorm sprechen, etwas anfangen.
Was kann man tun, beziehungsweise soll man überhaupt etwas tun?
Ich denke schon. Meine Auffassung ist, dass sich in der gegenwärtigen Situation ein gigantischer, noch gar nicht verstandener Bildungsauftrag verbirgt: Es gilt, mit dieser neuen Freiheit und diesen neuen Einflussmöglichkeiten erst umgehen zu lernen. Da reicht es nicht, Schulen mit W-Lan zu versorgen und mit Tablet-Computern auszustatten und ein paar Seminare zur Medienkompetenz dazwischen zu schieben – das ist alles Symptompolitik, aber keine seriöse Reaktion auf die Bildungsherausforderung der digitalen Zeit.
Was schlagen Sie stattdessen vor?
Ich fordere – wissend, dass ein solcher Vorschlag in einer förderalistisch zersplitterten Bildungslandschaft womöglich auf dem Weg zur Umsetzung krepiert – ein neues Schulfach, eine Medienmündigkeit auf der Höhe der Zeit. Die Grundfragen des guten Journalismus nach der Glaubwürdigkeit, der Relevanz und der Verbreitungsnotwendigkeit von Information müssen heute zu einem Element der Allgemeinbildung werden. Früher waren Fragen wie „Was soll öffentlich werden?“, „Was ist eine seriöse Quelle?“ „Wie prüft man Informationen?“ nur ein Spezialproblem von Journalisten. Heute gehen diese Fragen alle an. Sie sollten in den Schulen gelehrt werden.