"Die dauerhafte Einnahme von Opioiden wie Tramal verändert das Gehirn", erklärt der Suchtmediziner Holzbach. Doch nicht nur die Psyche, auch der Körper werde abhängig. Im Gegensatz zu den körperlichen Gefahren von Opioiden stellen Benzodiazepine vor allem für die Psyche eine Gefahr dar. "Nimmt man diese Medikamente jahrelang, verändern sie stark die Persönlichkeit des Patienten", sagt Holzbach. Sie werden gleichgültig. Angehörige oder der Arzt bemerken zwar die Veränderungen, halten sie aber für Alterserscheinungen. Denn Benzodiazepin-Abhänginge sind meist ältere Menschen oder eben Frauen mit massiven Problemen.

 

Frauen wie Christine Mang (Name geändert). Mit 16 wurde sie schwanger, heiratete und begann zu arbeiten. "Ich wollte nach außen perfekt sein, das war mein Problem", sagt sie heute. Schließlich reagierte ihr Körper auf die Belastung mit Herzrasen und Magen-Darm-Problemen. Der Hausarzt diagnostizierte Befindlichkeitsstörungen. Er verschrieb ihr Beruhigungsmittel, zwar wechselnde, aber alle aus der Wirkstoffgruppe der Benzodiazepine. Sofort ging es Mang besser. Sie griff täglich zur Tablette. Dass Benzodiazepine bereits nach kurzer Zeit abhängig machen können, konnte sie Ende der Siebziger nicht wissen: Der Hersteller Roche verschwieg, dass 1961 der erste Abhängigkeitsfall aufgetreten war. Erst 1984 warnte die Firma im Beipackzettel vor der Suchtgefahr.

Rezepte auf Anruf

"Benzodiazepine sind ein Segen für die Medizin", sagt der Bremer Suchtexperte Glaeske. Bei Operationen oder gegen Fieberkrämpfe seien sie nicht wegzudenken. "Aber der Zeitpunkt des Aufhörens wird schnell verpasst." Bereits nach drei Monaten würden 80 Prozent der Patienten abhängig. Der Entzug verursacht Psychosen und Schlafprobleme. Welcher Arzt besonders schnell Rezepte ausstellt, spreche sich unter den Süchtigen herum. Zehn bis 15 Prozent der Ärzte in Deutschland würden rund 60 Prozent der rezeptpflichtigen Medikamente verschreiben.

"Es war so einfach, an Nachschub zu kommen."

Joachim Müller hat lange gebraucht, bis er um Hilfe gebeten hat, lange, um überhaupt zu erkennen, dass er sie braucht. Mit der Zeit gewöhnt sich der Körper an das Medikament, benötigt immer mehr, um die erwünschte Wirkung zu erreichen. Den Hinweis im Beipackzettel, das Mittel könne schnell abhängig machen, ignoriert er, sein Hausarzt zunächst auch. Erst nach einem Jahr besteht der Mediziner darauf, von Tropfen auf Tabletten umzustellen. Diese werden nicht direkt von der Mundschleimhaut aufgenommen, wirken also langsamer und machen nicht so leicht süchtig. "Das hat mir bei den Tabletten viel zu lang gedauert, bis ich den Kick hatte", sagt Müller.

Er beginnt, ein System aus Tricks und Lügen aufzubauen: Zusätzlich zu den Tabletten besorgt er sich bei anderen Ärzten Tropfen. Bei seinem Hausarzt behauptet er, das Rezept verloren zu haben. "Es war so einfach, an Nachschub zu kommen." Die quälenden Schmerzen seiner Nervenkrankheit verschwinden - vorübergehend. Lässt die Wirkung der Medizin auf Gehirn und Rückenmark nach, fühlt er einen Druckschmerz "wie 30 Kilo Gewicht auf einem Zentimeter Rücken". Angstzustände und Schweißausbrüche kommen hinzu. Er steigert die Dosis. Als Pfleger im Altenheim sitzt er eigentlich an der Quelle, aber stehlen will er nicht.

Eine stille Sucht

Die meisten abhängig machenden Medikamente sind verschreibungspflichtig. Wie lange es dauert, bis man nicht mehr loskommt, ist bei jedem Patienten unterschiedlich. "Die Sucht gelingt nur mit Hilfe von Ärzten und Apothekern", sagt Gerd Glaeske, Facharzt für Sucht an der Uni Bremen. "Aber diese unerwünschte Nebenwirkung ist vielen Medizinern nicht bewusst." Der Medikamentenabhängige hat keine Fahne oder gelbe Fingernägel. Unruhe und Angstzustände lassen sich gut verbergen. Es ist eine stille Sucht. Nur rund ein Prozent dieser Süchtigen werden therapiert.

Zuletzt, nach zwanzig Jahren Suchtkarriere, nimmt Müller täglich mehr als 1000 Milligramm Tramal; die empfohlene Tageshöchstdosis liegt bei 400. Im Juli 2010 erleidet er einen Schlaganfall, Anfang Oktober dann einen zweiten. Ob sie auf die Sucht zurückzuführen sind, ist aus medizinischer Sicht zwar fragwürdig, aber bei einer Aufzeichnung seiner Gehirnströme, einem sogenannten EEG, hätten die Ärzte auch gesehen, dass seine Gehirnfunktionen deutlich verlangsamt seien, erzählt Müller. "Da hab' ich gemerkt, dass ich was ändern muss." Mit Hilfe seiner Familie will er jetzt eine Entzugskur beginnen; doch der Gedanke, seinen Alltag ohne Droge bewältigen zu müssen, macht ihm Angst.

Der Süchtige wird gleichgültig

"Die dauerhafte Einnahme von Opioiden wie Tramal verändert das Gehirn", erklärt der Suchtmediziner Holzbach. Doch nicht nur die Psyche, auch der Körper werde abhängig. Im Gegensatz zu den körperlichen Gefahren von Opioiden stellen Benzodiazepine vor allem für die Psyche eine Gefahr dar. "Nimmt man diese Medikamente jahrelang, verändern sie stark die Persönlichkeit des Patienten", sagt Holzbach. Sie werden gleichgültig. Angehörige oder der Arzt bemerken zwar die Veränderungen, halten sie aber für Alterserscheinungen. Denn Benzodiazepin-Abhänginge sind meist ältere Menschen oder eben Frauen mit massiven Problemen.

Frauen wie Christine Mang (Name geändert). Mit 16 wurde sie schwanger, heiratete und begann zu arbeiten. "Ich wollte nach außen perfekt sein, das war mein Problem", sagt sie heute. Schließlich reagierte ihr Körper auf die Belastung mit Herzrasen und Magen-Darm-Problemen. Der Hausarzt diagnostizierte Befindlichkeitsstörungen. Er verschrieb ihr Beruhigungsmittel, zwar wechselnde, aber alle aus der Wirkstoffgruppe der Benzodiazepine. Sofort ging es Mang besser. Sie griff täglich zur Tablette. Dass Benzodiazepine bereits nach kurzer Zeit abhängig machen können, konnte sie Ende der Siebziger nicht wissen: Der Hersteller Roche verschwieg, dass 1961 der erste Abhängigkeitsfall aufgetreten war. Erst 1984 warnte die Firma im Beipackzettel vor der Suchtgefahr.

Rezepte auf Anruf

"Benzodiazepine sind ein Segen für die Medizin", sagt der Bremer Suchtexperte Glaeske. Bei Operationen oder gegen Fieberkrämpfe seien sie nicht wegzudenken. "Aber der Zeitpunkt des Aufhörens wird schnell verpasst." Bereits nach drei Monaten würden 80 Prozent der Patienten abhängig. Der Entzug verursacht Psychosen und Schlafprobleme. Welcher Arzt besonders schnell Rezepte ausstellt, spreche sich unter den Süchtigen herum. Zehn bis 15 Prozent der Ärzte in Deutschland würden rund 60 Prozent der rezeptpflichtigen Medikamente verschreiben.

Der Hausarzt von Christine Mang händigte ihr bald die Rezepte auf Anruf aus: "Der wollte mich nicht mal mehr sehen. Er hat immer weiter verschrieben" - acht Jahre lang. Nie wäre die heute 53-Jährige von alleine auf den Gedanken gekommen, abhängig zu sein; sie glaubte sich krank. "Es war ja nur eine Tablette pro Tag, vom Arzt verordnet. Sie habe großes Vertrauen in den Arzt gehabt. Das Phänomen der Niedrigdosissucht kannte sie nicht: Auch kleine Mengen, über Jahre konstant genommen, können abhängig machen. Wie in Watte gepackt habe sie die Welt um sich herum wahrgenommen, erzählt sie rückblickend. Freude, Wut, Trauer - alles nahm sie wie durch einen Schalldämpfer wahr.

Schlimmer als ein Heroinentzug

"Die Medikamente sind wie eine rosarote Brille für die Psyche", sagt Gerd Glaeske, "aber die Pharmawatte ist nicht die richtige Therapie." Die Mittel könnten nur ganz akut bei psychischen Problemen helfen. Danach müsste der Arzt andere Maßnahmen ergreifen. Was oft unterbleibt.

Christine M. wurden in ihrer zweiten Ehe die Augen geöffnet. Als sie ihren Ehemann kennenlernte, war sie Anfang 30 und frisch geschieden, er Alkoholiker und bereit zum Entzug. Seine Suchterscheinungen kamen ihr allzu bekannt vor: Planen des Tages um das Suchtmittel herum, Panik bei dem Gedanken, keinen Nottropfen dabeizuhaben, Verheimlichen der Sucht. Sie wechselte den Arzt. Der Neue verschrieb ihr statt Tabletten Psychotherapie - und entwarf mit ihr einen Entzugsplan.

"Das Medikament auf Eigenverdacht hin abrupt abzusetzen ist das Schlimmste, was man machen kann", sagt Gerd Glaeske. Der Körper habe sich an das Mittel gewöhnt und neue Rezeptoren gebildet, die heftige Entzugssymptome hervorriefen. Bei älteren Patienten nehme er den Ärzten gar nicht übel, wenn sie keinen Entzugsversuch starteten, erzählt Glaeske. Als Faustregel gilt: So viele Jahre, wie der Patient das Medikament genommen hat, benötigt er in Monaten, um die Sucht auszuschleichen. Unter Umständen kann diese Entwöhnung schlimmer sein als ein Heroinentzug. Vor vier Jahren hat Glaeske einen Leitfaden für die Bundesärztekammer verfasst. Die Nachfrage danach ist gering.

Hintergrund: Hilfe bei der Erkennung von Medikamentensucht

Selbsttest Die folgenden Anzeichen können auf eine Abhängigkeit von Medikamenten hindeuten: Vorsichtshalber habe ich mir einen Vorrat meines Medikaments angelegt. Ich nehme mehrere Schlaf-, Beruhigungs- und Schmerzmittel nebeneinander. Ich habe die Dosis gesteigert, weil die Wirksamkeit des Medikaments nachgelassen hat. Weitere Informationen zum Thema Selbsttest finden Sie unter dem Stichwort "Lippstädter Benzo-Check".

Gefährdungspotenzial Nicht alle Medikamentengruppen haben ein gleichgroßes Suchtpotenzial. Besonders groß ist die Gefahr einer Abhängigkeit bei Benzodiazepinen, also Beruhigungs- und Schlafmitteln, und Opioiden, die akute Schmerzen lindern. Zu den Opioiden gehören zum Beispiel Tramal, Tramadol, Tilidin. Die Benzodiazepine umfassen unter anderem Diazepam-ratiopharm, Valium, Zolpiden. Problematisch sind auch rezeptfreie Schmerzmittel, falls sie öfter als zehn Mal pro Monat genommen werden:, z.B. Aspirin, ASS ratiopharm, Vivimed.