Seuchen, blutige Operationen ohne Narkose – die Medizin des Mittelalters hat keinen guten Ruf. Doch wissenschaftliche Studien zeigen: Die Heilkundler von damals beherrschten Anwendungen und Rezepte, die auch heute eine Chance verdient hätten.

Nottingham - Ein eigentümlicher Geruch zieht aus den Mikrobiologie-Labors durch die Nottingham University. Als wenn man die Düfte aus Dönerbude und Weinkeller miteinander kombiniert hätte. Weswegen immer wieder Kollegen aus anderen Fakultäten vorbeikommen und nachfragen, ob man jetzt bei den Mikrobiologen das Mensa-essen zubereiten würde. Tatsächlich jedoch steht da nur ein Kupferkessel. Gefüllt mit einem Gemisch aus Porree, Knoblauch, Ochsengalle und Weißwein, das man neun Tage ziehen lässt. Am Ende pressen die englischen Forscher den Galle-Knofi-Mix durch ein Tuch, um eine gelartige Masse zu erhalten. Diese Salbe soll – so steht es in dem vor über elf Jahrhunderten verfassten „Bald’s Leechbook“ (zu Deutsch: Balds Arzneibuch) – gegen Gerstenkörner helfen.

 

Ob dieses mittelalterliche Rezept tatsächlich Bakterien abtöten kann und damit antibiotisch wirksam ist, wurde von den Forschern um die Mikrobiologin Freya Harrison ebenfalls getestet. Dabei zeigte die Mixtur, dass sie nicht nur viele gewöhnliche Bakterien tötet, sondern auch die berüchtigten MRSA-Stämme, denen kaum noch ein Antibiotikum gewachsen ist. Um herauszufinden, ob nur ein Bestandteil der Salbe gegen Bakterien wirkt, werden auch alle Einzelzutaten getestet. Dabei zeigte sich: Porree, Knoblauch und Kupfer töteten zwar Bakterien, aber eben nicht die multiresistenten Stämme. „Es wirkt also die Salbe als Ganzes mit ihrer einzigartigen Wirkstoffkombination“, betont Harrison. Ihre Trefferquote liege bei 90 Prozent, und damit auf Augenhöhe mit Vancomycin, einem der letzten Speerspitzen im medikamentösen Kampf gegen MRSA.

Scharfsinnige Beobachter

Wie genau sich die einzelnen Bestandteile der Salbe gegenseitig unterstützen, weiß bislang niemand. Und ihre mittelalterlichen Erfinder dürften das auch nicht gewusst haben. Aber sie waren wohl scharfsinnige Beobachter. „Viele mittelalterliche Rezepte beruhten auf empirischen Versuchen“, sagt Harrison. „Die Verfasser haben beobachtet, was wirkt und was nicht.“

Immer mehr Wissenschaftler lenken daher ihr Augenmerk auf die Mittelalter-Medizin. Dabei stehen ihnen nur spärliche finanzielle Mittel zu, weil die Pharma-Industrie naturgemäß nur wenig Interesse an Konkurrenz aus längst vergangenen Zeiten hat. Das Interesse der Forscher gilte etwa dem „Lorscher Arzneibuch“, das um 800 von Benediktinern geschrieben wurde und seit 2013 zum Unesco-Welterbe gehört. Auf 75 Kalbspergamentblättern beeindrucken die Mönche mit ihrem Medizinwissen – als ob sie im Lorscher Kloster weniger gebetet als klinisch geforscht hätten. So empfehlen sie, den Patienten im Falle einer Pest-Erkrankung zur Ader zu lassen. Die wissenschaftliche Medizin hielt das lange Zeit für kontraproduktiv, weil es den kranken Körper zusätzlich schwächen würde. Doch mittlerweile weiß man: Bakterien vermehren sich umso schlechter, je weniger Bluteisen sie vorfinden. Bei Infektionen kann es daher tatsächlich hilfreich sein, wenn man zur Ader lässt.

Bei „geistiger Verwirrung“ etwa raten die Mönche zu Johanniskraut, was – nach einer langen Phase der Vergessenheit – mittlerweile voll im Trend liegt. Das rote Öl der Pflanze hat sich in den letzten Jahrzehnten zur vollwertigen Therapieoption bei Angststörungen und Depressionen entwickelt.

Kräuterschnaps und Breiumschläge

Genau wie die Herzglykoside in der Behandlung von Herz- und Kreislaufschwäche. Auch die finden sich im Arzneibuch der Benediktiner, und zwar in Gestalt von glykosidhaltigen Heilpflanzen wie Meerzwiebel, Maiglöckchen und Fingerhut. Diese wurden etwa als alkoholische Essenz, also als Kräuterschnaps verabreicht, während die Meerzwiebel zerrieben und als Breiumschlag auf schmerzende Venen und Geschwüre des Unterschenkels gelegt wurde.

Die schwarze Johannisbeere nannte man im Mittelalter „Gichtbeere“. Das zeigt, dass sie nicht nur als Obst, sondern auch als Arzneimittel verwendet wurde. Wobei man für medizinische Zwecke die Blätter als Tee aufbrühte. Und das ist aus heutiger Sicht sinnvoll gewesen: Denn in Laborstudien hat sich gezeigt, dass die Blätter der Beere nicht nur Entzündungen hemmen, sondern auch den Blutfluss verbessern.

Wie die Verfasser des Lorscher Arzneibuchs gehörte auch Hildegard von Bingen zu den Benediktinern. Sie ist sicherlich die bekannteste Heilerin des Mittelalters, obwohl bis heute niemand genau sagen kann, was sie wirklich geschrieben hat. Aber: Unter ihrem Namen sind wieder Heilpflanzen zu Ehren gekommen, die man seitens der wissenschaftlichen Medizin lange Zeit vernachlässigt hat. Wie etwa die Ringelblume, deren wundheilende Eigenschaften heute bei der Behandlung von Dekubitus genutzt werden.

Lavendel gegen Aggressionen

Zur Behandlung von Altersbeschwerden und für „ein reines Wissen und einen reinen Verstand“ empfahl die Äbtissin den wilden Lavendel, womit sie nach heutigem Kenntnisstand ebenfalls richtig lag. In einer koreanischen Studie massierte man die Hände von Alzheimer-Patienten mit Lavendelöl, während eine Kontrollgruppe lediglich mit Jojobaöl behandelt wurde. Zwei Wochen später zeigten die Lavendel-Probanden deutlich weniger Ängste und Aggressionen als zuvor.

Dem Ingwer hingegen unterstellte Hildegard, er würde das Triebhafte im Menschen stärken und ihn zu einem „trottligen Alten“ machen. Mittlerweile jedoch hat sich die Gewürzwurzel als Mittel gegen Reiseübelkeit und Arthritis bewährt. Die Heiler des Mittelalters konnten eben auch irren.

Bekannte Heilkräuter

Salbei Der Name leitet sich vom lateinischen „salvare“ ab, was zu Deutsch „heilen“ bedeutet. Die Blätter des Salbeis können das ganze Jahr geerntet werden, doch kurz vor der Blüte ist die Pflanze am gehaltvollsten. Verwendet wurde Salbei gerne bei Erkältungskrankheiten: Um Husten, Halsentzündungen oder Bronchitis zu behandeln, stellten Mönche im Mittelalter einen Sirup aus Honig, Salbei und Apfelessig her. Man wickelte sich auch ein Salbeiblatt um den Finger, und massierte damit das Zahnfleisch – zur Vorbeugung gegen Entzündungen.

Süßholz hilft bei Bronchitis: Das Süßholz verdünnt den Schleim, der sich bei einer Erkältung in den Bronchien bildet. Es wirkt auch gegen Entzündungen, etwa im Hals und in der Magenschleimhaut.

Dost ist eigentlich wilder Oregano. Dost enthält Gerbstoffe und ätherische Öle, wirkt krampflösend und kann als Tee gegen Heiserkeit helfen.

Thymian hilft ebenfalls gegen Erkältung. Er wirkt antibakteriell und sogar antibiotisch, zum Beispiel als Tee.

Lebkuchengewürze Auch der weihnachtliche Lebkuchen ist, wie Medizinhistoriker Wolfgang Eckart von der Universität Heidelberg herausgefunden hat, ein Teil der Mittelaltermedizin. Seinen Ursprung hat er bei den alten Germanen, die ihn im Winter als Gottesopfer darbrachten. „Man ersehnte mit ihm die Wiederkehr der wärmenden Sonne und des Lichts“, erklärt Eckart. Im Mittelalter verkauften ihn Nonnen und Mönche in Apotheken, er sollte gegen Fieber helfen – und das Vieh davor bewahren, vom in Winterzeiten besonders hungrigen Wolf gebissen zu werden. Denn Lebkuchen enthält viel Zimt, dessen ätherische Öle antibiotisch wirken und viele Lebewesen abschrecken, wie etwa Würmer, Mücken und Zecken.