Nach 18 Jahren geht der Paul-Ehrlich-Preis wieder nach Deutschland: Michael Reth von der Universität Freiburg wird für seine Arbeit zum Immunsystem des Menschen ausgezeichnet. Er wies nach, dass in den Immunzellen kein Chaos herrscht.
Stuttgart - Über diesen Preis freut sich Michael Reth besonders, obwohl er schon mit vielen wissenschaftlichen Auszeichnungen geehrt wurde. In diesem Jahr erhält der Freiburger Immunologe in Frankfurt den Paul-Ehrlich-und-Ludwig-Darmstaedter-Preis, der mit 100 000 Euro dotiert ist – nach 18 Jahren geht dieser Preis erstmals wieder an einen deutschen Forscher. Reth bezeichnet sich selbst als molekularen Denker und tritt damit in die Fußstapfen von Paul Ehrlich, dem Vorreiter des molekularen Denkens. Im Jahr 1900 stellte Paul Ehrlich seine berühmte Seitenkettentheorie vor, die bis heute gilt. Dabei geht es darum, wie Stoffe von Zellen erkannt werden. Heute werden Ehrlichs Seitenketten als Rezeptoren bezeichnet.
Reth führt die Forschungsarbeiten Paul Ehrlichs gewissermaßen weiter. Auch er erforscht die Struktur von Rezeptoren. Am Freiburger Max-Planck-Institut für Immunologie und Epigenetik sowie am Institut für Biologie der Universität widmet er sich den B-Zellen: Diese Zellen spielen im Immunsystem eine zentrale Rolle bei der Abwehr von Krankheitserregern und anderen Fremdkörpern. Diese Fremdkörper werden als Antigene bezeichnet und sehen völlig unterschiedlich aus: Ein Feinstaubpartikel wird ebenso als störend erkannt wie das kleinere Schnupfenvirus oder ein vergleichsweise riesiger Darmerreger.
Die B-Zellen erkennen die Fremdkörper und schütten sogenannte Antikörper aus. Diese markieren die Fremdkörper, die damit von diversen Zellen des körpereigenen Abwehrsystems erkannt und eliminiert werden. Die Produktion dieser Antikörper muss jedoch zunächst angeregt werden. Dies geschieht über Rezeptoren auf den B-Zellen. Doch wie genau wird dieser B-Zell-Rezeptor aktiviert? Dies untersucht der Freiburger Immunologe, und seine jahrelangen Forschungsergebnisse führen zu einem Paradigmenwechsel in der Biologie, so dass in Zukunft viele Lehrbücher umgeschrieben werden müssen.
Es hat ein paar Jahre gedauert, bis ihm die Kollegen glaubten
„Bisher ging man davon aus, dass die Proteine der B-Zell-Rezeptoren im Ruhezustand einzeln auf der Oberfläche der Zelle schwimmen, ähnlich chaotisch, wie viele kleine Boote auf dem Meer treiben würden“, erklärt Reth, der seit einigen Jahren auch Sprecher des BIOSS Centre for Biological Signalling Studies in Freiburg ist, ein im Rahmen der Exzellenzinitiative geförderter Forschungscluster. Nach diesem muss ein Fremdkörper an zwei Proteine gleichzeitig binden, so dass sich die chaotischen Strukturen zu einem Rezeptor vernetzen. Dies löst im Inneren der Zelle eine Signalkaskade aus, an deren Ende die Zelle die Antikörper ausschüttet.
„Dieses Modell für den Antigenrezeptor ist falsch“, meint Reth. Es verhalte sich genau umgekehrt. „Auf der Oberfläche der Zelle herrscht kein Chaos, vielmehr liegen die Moleküle geordnet vor, immer in Gruppen zusammen“, sagt er. Durch einen Fremdkörper werde diese Ordnung gestört. „Die Gruppe zerfällt in einzelne Antigenrezeptoren. Das ist der Anstoß für die Signalkaskade im Innern der Zelle.“ Bereits vor 13 Jahren hat Reth diese Theorie vertreten. Allerdings wurden seine Ergebnisse lange als Artefakte betrachtet, also als fehlerhaftes Ergebnis der Proteinreinigung und nicht als Abbild der Realität. Auch dabei ging es ihm wie einst Paul Ehrlich, der mit seiner Seitenkettentheorie viele Jahre belächelt und ignoriert wurde.
Reth konnte mit seiner Arbeitsgruppe seine Theorie jedoch beweisen. Die Wissenschaftler gingen dabei einen ungewöhnlichen Weg: Sie bauten den B-Zell-Rezeptor von B-Zellen der Maus in einer Zelle der Taufliege Drosophila nach, um seine Struktur und Funktion besser studieren zu können. Heute ist diese Methode anerkannt und zählt zu den Grundlagen einer neuen Forschungsrichtung mit dem Namen Synthetische Biologie. Zu Beginn des Jahrtausends aber, als Reth diesen Weg ging, schüttelten Immunologen nur den Kopf.
Die Ökologie war Reth als Fachgebiet zu trocken
An dieser Modellzelle aus einer Drosophila konnten die Freiburger Immunologen mit fluoreszierenden Farbstoffen zeigen, dass der „B-Zell-Rezeptor in einer ruhenden B-Zelle als organisierte Gruppe vorliegt“, wie es im Fachjargon heißt. Diese Theorie wird als „Dissoziations-Aktivierungs-Modell“ bezeichnet. Faszinierend an diesem Modell sei, dass für den Zerfall der geordneten Gruppen nur die Stärke der Bindung relevant sei, nicht aber die genaue Struktur des Fremdkörpers, sagt Reth und verdeutlicht dies mit einem Beispiel: Wenn in einem Haus eingebrochen wurde, kann der Eigentümer das daran erkennen, dass die häusliche Ordnung zerstört wurde. Man wisse zwar, dass ein Einbrecher da war, aber nicht, wer es war. Für die B-Zelle bedeute dies, dass ihre Antikörper-Produktion von vielen verschiedenartigen Fremdkörpern aktiviert werden könne.
„Die Immunologie ist eine seltsame Wissenschaft. Hier läuft alles umgekehrt“, beschreibt der Biologe Reth sein Arbeitsgebiet. In anderen Forschungszweigen stelle sich eine Frage, man versuche, diese mit seinen Untersuchungen zu beantworten, und am Ende stehe die klinische Anwendung, also beispielsweise die Entwicklung eines Medikaments. In der Immunologie hingegen sei es umgekehrt: Am Anfang der Forschung stehe bei seinen Untersuchungen das Endergebnis, also die Impfung. „Wir fragen uns, warum funktioniert eigentlich eine Impfung?“ Dabei werden Antigene gespritzt mit dem Ziel, dass der Organismus Antikörper bildet. Doch wie das auf molekularer Ebene funktioniere, sei bis heute nicht klar.
Fasziniert hat Reth diese Wissenschaft schon zu Beginn des Studiums, obwohl er eigentlich als zukünftiger Retter der Welt das Biologiestudium in Köln begonnen hat. Als ökologisch interessierter Student beschäftigte ihn die Endlichkeit der Ressourcen, die Umweltkatastrophen und die Ernährung einer explodierenden Weltbevölkerung. Doch statt dieser globalen Problematik musste man sich im Fachbereich Ökologie beispielsweise mit dem Verhalten von Käfern auseinandersetzen, beschreibt Reth seine Anfangszeit: „Das war mir zu trocken.“ Daher ließ er die Betrachtung der ökologischen Kreisläufe sein und widmete sich den Lebenskreisläufen im Körper. „Auch im Körper hängt sehr viel zusammen“, erklärt er. Unschätzbar viele Zellen müssten zusammenarbeiten und kommunizieren, damit das Ganze funktioniere. Und dabei gäbe es noch sehr viel zu erforschen, ist sich der Preisträger sicher.
Der Preisträger Michael Reth
Werdegang
Nach seinem Studium an der Kölner Universität ging Michael Reth an die Columbia Universität New York, kehrte aber bald zurück nach Köln. 1989 holte ihn der Nobelpreisträger Georg Köhler nach Freiburg als Gruppenleiter an das Max-Planck-Institut (MPI) für Immunologie. Seit 1996 ist er zusätzlich Professor für molekulare Immunologie am biologischen Institut der Uni Freiburg.
Zukunft
Derzeit ist Reth außerdem Sprecher des Exzellenzclusters BIOSS Centre for Biological Signalling Studies. Dies ist ein Zusammenschluss aus sieben Fakultäten der Uni, dem MPI und dem Fraunhofer-Institut für Physikalische Messtechnik in Freiburg. In diesem Cluster steht die synthetische Biologie im Mittelpunkt. Nach dem Motto „von der Analyse zur Synthese“ bauen die Forscher Signalkaskaden nach oder entwickeln neue Systeme, beispielsweise Hydrogele, die Medikamente zeitlich kontrolliert freisetzen. Ein weiteres Beispiel sind Signalproteine, die über Licht an- und ausgeschaltet werden können.