Medizinische Versorgung Wie der Beruf des Landarztes attraktiver werden soll

Telemedizinische Angebote stehen seit Beginn der Coronapandemie hoch im Kurs. Foto: imago/Jochen Tack

Auf dem Land ist die medizinische Versorgungslage vielerorts prekär. Telemedizin und Gemeinschaftspraxen könnten helfen, verwaiste Standorte attraktiver zu machen.

Sport: David Scheu (dsc)

Baiersbronn - Die Sonne strahlt in Baiersbronn. Wolfgang von Meißner grüßt freundlich vor der großen Eingangstüre seiner Praxis im Nordschwarzwald, streift den Mund-Nasen-Schutz über und bittet ins Gebäude. Notfallraum, Behandlungsräume, Wartebereich: An jedem Stopp der Führung gibt es einige erklärende Sätze, alles kommt modern und blitzblank daher in dem nicht mal zehn Jahre alten Komplex. Mit dabei sind 25 Medizinstudierende aus ganz Deutschland – zwar nicht persönlich, aber vor dem Bildschirm im Rahmen der virtuellen „Doc Tour“ der Techniker Krankenkasse (TK) Baden-Württemberg. Sie soll Einblicke geben in den Arbeitsalltag einer Praxis, vor allem aber soll sie Lust machen auf den Beruf des Landarztes.

 

Denn die schönen Bilder haben einen ernsten Hintergrund. Schon länger finden sich für immer mehr Einzelpraxen keine Nachfolger mehr, in Baden-Württemberg sind laut Versorgungsbericht der Kassenärztlichen Vereinigung (KVBW) seit dem Jahr 2015 insgesamt 757 weggefallen – immerhin acht Prozent der gesamten Arztpraxen. Ob sich der Trend umkehren lässt, ist fraglich: Von den gut 7000 Hausärzten im Südwesten sind derzeit 1400 älter als 65 Jahre. Ihr Abgang könnte vor allem die ambulante Versorgung im ländlichen Raum gefährden, da es viele Neueinsteiger in die Ballungsräume zieht. Das Land wirkt auf sie oft abschreckend: zu abgeschieden, zu weite Wege. Das alles will von Meißner gar nicht wegdiskutieren: „Keine Frage, wir haben hier mehr Bäume als Einwohner.“ Für den Besuch in Pflegeheimen müsse er teilweise 25 Kilometer fahren. Einfache Strecke.

Sprunghafte Zunahme der Telemedizin durch die Coronakrise

Es sei aber auch Besserung in Sicht, ergänzt von Meißner im gleichen Atemzug. Gemeinsam mit seinem Kameramann betritt er das virtuelle Sprechzimmer der Praxis, das infolge der Coronakrise eingerichtet wurde. Beamer, Leinwand und Kamera gehören zur Ausstattung, um mit Infizierten auf Distanz in Kontakt zu treten. Das habe sich sehr bewährt, ganz losgelöst von der Pandemie. „Die Telemedizin ist eine gute Sache“, sagt von Meißner. Gerade auf dem Land ließen sich dadurch Praxen und Notaufnahmen entlasten, wenn ein Arzt mal nicht persönlich erreichbar sei.

Der Blick auf die blanken Zahlen zeigt: In ganz Baden-Württemberg brachte die Pandemie einen immensen Schub für diese digitalen Angebote, die vor drei Jahren als Pilotprojekt in Stuttgart und dem Kreis Tuttlingen unter dem Schlagwort „Doc Direct“ gestartet worden waren. Während 2019 im gesamten Bundesland lediglich 216 Videosprechstunden abgehalten wurden, konsultierten im Pandemiejahr 2020 rund 130 000 Patienten ihren Arzt online. Dennoch gehe noch viel mehr, betont die baden-württembergische TK-Leiterin Nadia Mussa: „Auf dem Weg in eine neue medizinische Versorgungswelt stehen wir erst ganz am Anfang.“ Um die Qualität der Betreuung müsse sich dabei niemand sorgen, ergänzt von Meißner: „Auf Videobildern sehe ich die Mandeln von Patienten oft besser, als wenn ich persönlich vor Ort bin.“

Gemeinschaftspraxen als Zukunftsmodell?

Ob er denn die Niederlassung auf dem Land empfehlen könne, will eine Studentin wissen. Von Meißner bejaht das, schränkt aber zugleich ein: „Von einer Neugründung als Einstieg würde ich abraten. Das ist was für sehr Mutige.“ Er selbst habe es zu schätzen gewusst, als Angestellter zunächst keine Bürokratie am Hals zu haben, als er 2013 von einer Stelle als Anästhesist in Stuttgart den Wechsel aufs Land als Allgemeinmediziner gewagt hatte. „Man kann sich anfangs voll auf die medizinische Seite stürzen und irgendwann später dann den Übergang in die Eigenständigkeit schaffen.“ Zudem sei es möglich, ohne schlechtes Gewissen krank zu sein oder frei zu nehmen. „Teamarbeit statt Einzelgängertum kann ein Zukunftsmodell auf dem Land sein“, sagt von Meißner. Im Ärztehaus in Baiersbronn arbeitet er inzwischen als einer von sieben Ärzten in zwei Gemeinschaftspraxen, deren Zahl stetig zunimmt: Vor zehn Jahren gab es in Baden-Württemberg 102 Großpraxen mit mindestens fünf Ärzten oder Physiotherapeuten, mittlerweile sind es 454. Diese befinden sich allerdings zu 70 Prozent in Städten oder Ballungsräumen.

Das Gegensteuern hat deshalb längst begonnen. Die baden-württembergische Landregierung führte im Sommer eine Landarztquote ein: 75 Studienplätze jährlich sollen künftig an Bewerber vergeben werden, die sich im Anschluss an ihr Studium eine Zeitlang als Landarzt verpflichten. Die erste Resonanz war positiv, 450 Interessenten gab es für das anstehende Wintersemester. Auch die KVBW bezuschusst eine Niederlassung durch die Übernahme oder Neugründung einer Einzelpraxis in ausgewiesenen Fördergebieten finanziell. Von Meißner würde es begrüßen, wenn diese Bemühungen Erfolg hätten. Er steht auf der Dachterrasse seiner Praxis, im Hintergrund tut sich die Naturlandschaft auf. „Ich bin sehr gerne Landarzt und kann mir persönlich nichts anderes mehr vorstellen.“

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