Innenminister Thomas Strobl (CDU) räumte mehr als 20.000 nicht vollstreckte Haftbefehle in Baden-Württemberg ein: Was steckt dahinter?

Stuttgart - Als jüngst einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, dass im Land etwa 20 000 offene Haftbefehle vorliegen, taten Innenminister Thomas Strobl und die Polizeiführung alles, um diese Zahl zu relativieren. Halb so wild, kein Grund zur Beunruhigung – so lautete ihre zentrale Botschaft. Das sei immer schon so gewesen und in anderen Bundesländern verhalte es sich auch nicht anders. In den wenigsten Fällen handle sich um gefährliche Straftäter, die frei herumliefen. Strobl und Landeskriminaldirektor Klaus Ziwey sprachen von Vollstreckungshaftbefehlen für Leute, die ihre Geldstrafe nicht bezahlt hatten oder deren Bewährung aufgehoben worden war. Aber kann das beruhigen?

 

Dagegen lässt sich manches sagen. Strafbefehle werden nicht nur fürs wiederholte Schwarzfahren in der Stadtbahn vergeben, sondern zum Beispiel auch für Körperverletzungsdelikte. Und Verstöße gegen die Bewährungsauflagen lassen gerade nicht auf eine glückende Sozialisation schließen. Ein weiteres besonders beunruhigendes Beispiel gab der NSU-Terrorist Uwe Böhnhardt, der Anfang 1998 unter den Augen der Polizei abtauchen konnte, obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits zu einer Haftstrafe verurteilt war. Die NSU-Mordserie begann zwei Jahre später.

Debatte nach der Freiburger Gruppenvergewaltigung

Nico Weinmann, rechtspolitischer Sprecher der FDP-Landtagsfraktion, hat nun bei Innenminister Thomas Strobl (CDU) eine Aufschlüsselung offenen Haftbefehle erbeten. Weinmann Befund lautet: „Dass in Baden-Württemberg keine 20 000 Mörder und Vergewaltiger herumlaufen war klar. Gleichwohl gibt es keinen Grund zur Entwarnung.“

Nach Angaben des Innenministeriums lagen zum Stand 6. November im Auskunftssystem der Polizei (POLAS) insgesamt 20 976 Fahndungen zur Zweck der Festnahme vor, die 18 602 Personen betrafen. Der Löwenanteil der Haftbefehle entfiel auf Strafvollstreckungen (83 Prozent). Darunter fällt zum Beispiel die Ersatzfreiheitsstrafe, wenn die Geldstrafe nicht bezahlt wird. 15,5 Prozent betrafen Straftaten, die sich noch im strafprozessualen Stadium des Ermittlungsverfahrens befanden, der Täter also noch gesucht wurde (Festnahmeausschreibung zum Anlass Straftat). Der schmale Rest waren Abschiebungen und dergleichen.

Viele Täter im Ausland

Von diesen 3246 Fahndungsnotierungen zur Haftbefehlskategorie Straftat (das sind die 15,5 Prozent) entfielen 572 auf Gewalttaten , 94 auf Straftaten gegen das Leben (Mord/Totschlag) und 144 Sexualstraftaten. Das sind jene Delikte, welche die Öffentlichkeit besonders beunruhigen. 238 offene Haftbefehle gegen Mörder, Totschläger und Vergewaltiger ist nicht wenig. Allerdings gibt das Innenministerium gibt an, die Tatverdächtigen hätten sich wohl vielfach ins Ausland abgesetzt. Türkische Staatsangehörige sind bei diesen Delikten prozentual am häufigsten vertreten. Bei den Straftaten gegen das Leben entspricht ihr Anteil 34 Prozent, bei Sexualstraftaten fast 28 Prozent.

Von den 17 466 Festnahmeausschreibungen zur Strafvollstreckung (das sind die 83 Prozent) entfielen 1651 auf Gewalttaten, 373 auf Straftaten gegen das Leben und 306 auf Sexualstraftaten. Zumindest bei den Mördern und Totschlägern ist in dieser Haftbefehlskategorie davon auszugehen, dass sich die – bereits verurteilten – Täter im Ausland befinden. Es handle sich in 96 Prozent der Fälle um Täter, die nach Teilverbüßung ihrer Haft ins Ausland abgeschoben wurden, verbunden mit einem Einreiseverbot. Gegen sie liegt aber in Deutschland weiterhin ein Haftbefehl zur Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe vor. Dahinter steckt das Ziel, solche Leute sofort verhaften zu können, sollten sie versuchen, zurück nach Deutschland zu kommen. Der FDP-Rechtspolitiker Weinmann moniert, dass die Priorisierung der Haftbefehle nicht landeseinheitlich erfolge, sondern jedes Polizeipräsidium frei agiere. Welcher Tatverdächtige vorrangig festzunehmen sei – diese Priorisierung werde zu wenig Augenmerk geschenkt.