Mohamad Alsheikh Ali kommt nach seiner Ankunft in Stuttgart im März 2015 in einem Flüchtlingsheim in Feuerbach unter. In seiner ersten Kolumne erzählt er die Geschichte über das Leben in dem „Vielvölkerhaus“ – und die Geschichte von Abu Hassan.

Stuttgart - Meine Hände zittern, als ich eine Zigarette aus meiner Packung nehme. Ich schaue Abu Hassan in die Augen und sehe Müdigkeit und Trauer. Abu Hassan ist Palästinenser, und er ist Syrer. Das heißt im Jahr 2016, Pech gehabt, dein Leben besteht aus Vertreibung. 1948 floh seine Familie aus Palästina, fand Unterschlupf wie Millionen andere in meinem Heimatland Syrien. Zwei Generationen hatte Abu Hassans Familie so etwas wie eine Heimat. Dann kommt wieder ein Krieg und bläst ihn über die halbe Welt in ein fremdes Land. Jetzt sitzt er in Feuerbach mit vielen anderen, die wie er keinen anderen Platz auf der Welt haben als einen geborgten.

 

Zweimal in seinem Leben reißen andere die Zelte nieder, die Abu Hassan sein Zuhause nennt. Heimat, sie zerrinnt in seinem Leben wie Sand. Kein Wunder, dass er müde ist und traurig von all dem, was er verloren hat und neu aufbauen musste. Ich rauche nervös, während Abu Hassan erzählt, wie es ist, zwischen Hoffnung und Angst zu leben. Seine Augen drücken aus, was wir alle fühlen, was ich fühle, auch wenn er schon Flüchtling war, als ich noch ein Land mein eigenes nennen durfte. Wir reden darüber, wie es ist, mit der ganzen Familie in einem Raum zu leben. Tagsüber zehrt der Lärm der anderen an den Nerven, nachts raubt er den Schlaf. Wir reden über den Streit zwischen uns, den Flüchtlingen. Über die Kinder der anderen, die laut sind genau wie unsere eigenen. Wir leben mit Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturen Tür an Tür. Unsere Nachbarn kommen aus Russland, Gambia oder China. Und es gibt ja nicht nur Streit, sondern auch Scherze und Zusammenleben. Ohne Geduld und Toleranz geht es nicht. Unser Vielvölkerhaus, in dem wir uns zusammenraufen, ist das nicht das, was die Deutschen Integration nennen?

Abu Hassan und ich rauchen, und wir reden darüber, dass wir nicht lange bleiben werden an diesem Ort. Dann schmerzt die Erkenntnis wie ein zu tiefer, zu schmutziger Lungenzug: wie schwer es wird, den Ort zu verlassen.

Die Kinder kamen zuerst nach Deutschland

Abu Hassans Frau träumte von einer Zukunft in Deutschland. Einem Land, das uns so edelmütig und frei erschien, die perfekte Demokratie. Seine Kinder kamen an, als Abu Hassan und seine Frau noch auf der Flucht waren. Sie sagten ihm: „Kommt, es gibt wenig Probleme für Menschen wie uns.“ 2015 standen Abu Hassan und seine Frau dann in München und waren dankbar für das, was die Deutschen für sie taten. Aber Probleme hatten sie doch. Die deutsche Bürokratie ist ein Rätsel für sie. Manchmal fühlen sie sich hilflos und überfordert. Sie sind unsicher, wenn sie zu deutschen Ärzten gehen. Es gibt zu wenige Übersetzer, die helfen könnten, dass sich Patienten und Ärzte wirklich verstehen. Mitglieder unseres deutschen Freundeskreises schütteln immer wieder den Kopf. Die Behörden hätten wissen können, was auf sie zukommt, sagen sie.

Abu Hassan ist immer noch dankbar. Deutschlernen ist für ihn das Wichtigste im Moment. Er weiß, dass die Deutschen von ihm erwarten, dass er bald ihre Sprache spricht. Wir alle wissen das. Aber viele von uns warten auf eine Anerkennung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Wir wollen uns integrieren. Wir werden ungeduldig, wenn wir nicht beginnen können. Wir werden traurig, wenn wir hören, dass manche Deutsche glauben, dass wir nur faul herumsitzen. Wir wollen sie vom Gegenteil überzeugen, können aber nicht, weil noch dieses oder jenes Papier fehlt. Dann sind wir müde und rauchen miteinander eine Zigarette. Geteilte Träume sind fast so süß wie geteiltes Leid.