Bei einer Reise nach Istanbul hat unseren Kolumnisten eine besondere Sehnsucht erfasst – nach Stuttgart. Dabei hatte er sich eigentlich geschworen, sich nicht noch einmal in eine Stadt zu verlieben.

Stuttgart - Nach sieben Jahren im Exil hätte ich nie gedacht, dass ich Heimweh nach einer anderen Stadt außer Damaskus empfinden kann. Als ich meine Heimatstadt verlassen musste, habe ich mir geschworen, mich nie wieder in eine Stadt zu verlieben. Mehrere Male bin ich hier in Deutschland umgezogen. Immer ist alles gut verlaufen, weil ich überzeugt davon war, dass hier alle Städte eine ähnliche „Identität“ besitzen, irgendwie gleich „ticken“ und gut organisiert sind. Und weil ich wusste, der Abschied von Freunden ist hier nicht für immer. Aber je länger ich in Deutschland lebe, desto klarer wurde mir: Es gibt Unterschiede. Und Abschiede fallen schwer, auch wenn sie nicht für immer sind. Ich habe das Gefühl von Heimweh erst verstanden, als ich weit weg von Familie und Freunden war – und nicht mehr an den Ort reisen konnte, an dem ich aufgewachsen bin.

 

In Stuttgart bin ich weder geboren noch aufgewachsen. Ein Leben in Stuttgart habe ich mir nicht bewusst ausgesucht. Ich bin hierher gezogen, weil ich meiner Freundin nah sein wollte und aus beruflichen Gründen. Stuttgart gefiel mir oberflächlich betrachtet nie besonders gut. Wenn man die Stadt mit der Bahn erreicht, sieht man den Bahnhof, der keinen Charme versprüht, die riesige Baustelle, die verstopften Straßen, triste Bürogebäude und die Königstraße, die ich nie ganz abgelaufen bin, weil mir die Atmosphäre dort nicht gefällt.

Schritt für Schritt Stuttgart ins Herz gelassen

Eintausend Kilometer liegen zwischen Damaskus und Stuttgart. Damaskus liegt im Osten Syriens, Stuttgart im Süd-Westen Deutschlands. Und obwohl die beiden Städte auf den ersten Blick völlig unterschiedlich sind, habe ich im Lauf der Zeit doch einige Gemeinsamkeiten feststellen können. Diese waren immer wieder Themen in meinen Kolumnen.

Vor allem nachts versuchte ich, Stuttgart zu entdecken. Städte bekommen nachts ein zweites Gesicht, wenn die Straßen leer sind und es ruhig ist. Tagsüber, wenn es hektisch ist und laut, sehen Städte anders aus. Und von oben versuchte ich, Stuttgart zu erkunden. Dabei fielen mir die meisten Ähnlichkeiten zu Damaskus auf. Als ich zum Beispiel auf den Birkenkopf gewandert bin und die Stadt bei Sonnenuntergang beobachtete: Das Licht ließ die Häuser viel heller als sonst und wärmer erscheinen. Ich hatte in diesem Moment das Gefühl, auf Damaskus zu blicken. Es gibt hier sehr viele schöne Möglichkeiten, die Stadt aus der Vogelperspektive zu betrachten. Ich habe festgestellt, dass man Stuttgart auf den zweiten Blick lieben lernen kann.

Also habe ich Stuttgart Schritt für Schritt in mein Herz gelassen. Und dennoch hat mich das Gefühl, dass mich vor Kurzem bei einer Reise nach Istanbul überkam, sehr überrascht.

Überrascht von den eigenen Gefühlen

In Istanbul, der Stadt, die der Damaszener Lebensweise so viel näher ist als jede deutsche Stadt, überfiel mich auf einmal Heimweh. Dass ich Heimweh nach meiner Freundin und nach unserem Sohn haben würde, das wusste ich. Aber dass ich auch Heimweh nach Stuttgart haben könnte, damit hatte ich nicht gerechnet. Das machte sich in ganz unterschiedlichen, unscheinbaren Situationen bemerkbar: zum Beispiel, als ich in einer Bäckerei stand und mir eine warme Brezel wünschte. Oder als ich auf zwei ältere Damen aus Köln stieß, und mir bewusst wurde, dass ich die deutsche Sprache vermisse. Ich hatte auch Heimweh nach der Straße, in der ich wohne und nach dem Balkon, auf dem ich so gerne sitze.

Auf dem Heimflug dachte ich über vieles nach. Ich spürte, dass ich nicht nur Heimweh hatte, sondern auch Sehnsucht, und ich erkannte zum ersten Mal, dass Stuttgart eine ganz eigene schöne Seele hat, die ich vermisst hatte.