„Mein Kampf“ kommentiert Hitler unterm Vergrößerungsglas

Es ist wieder da – aber wissenschaftlich kommentiert und kulturhistorisch eingeordnet: Hitlers „Mein Kampf“. Die jetzt veröffentlichte kritische Ausgabe ermöglicht neue Erkenntnisse in der Forschung.
Stuttgart - Die Giftdose ist auf dem Markt, aber das Antiserum gleich mit. Es dürfte also nichts passieren. Ob auch von dem unkommentierten Hitler-Buch „Mein Kampf“ noch eine Gefahr ausgegangen wäre, darf man bezweifeln. Dafür steckt dieses Pamphlet doch allzu sehr im 19. Jahrhundert. Es war deshalb vor allem die ängstliche Verbotspolitik der bayerischen Regierung, die das Interesse an dem Pamphlet wachhielt. Andererseits muss man ihr dankbar sein, denn ohne das Tabu hätte es die kommentierte Ausgabe, die das Institut für Zeitgeschichte am Freitag in München vorgestellt hat, nie gegeben.
Wolfgang Benz, der Altmeister der NS-Forschung, hatte sich gegen das Projekt ausgesprochen, weil Hitlers Tiraden keinen weiteren Erkenntniswert enthielten. Nun aber, da wir einen ersten Blick in das Werk mit seinen 3500 Fußnoten geworfen haben, müssen wir ihm widersprechen. Die vier Kommentatoren haben eine beeindruckende, gründliche Forschungsarbeit abgeliefert, die den neuesten Stand der Wissenschaft dokumentiert. Selbst wer sich auch bisher schon intensiv mit Hitler beschäftigt hat, findet in dem Band viel Neues.
Entgegen der landläufigen Meinung war Hitlers „Mein Kampf“ kein wirres Buch, es enthielt vielmehr den konsequenten Plan zur Erringung der totalen Macht des deutschen Volkes über Europa und darüber hinaus. Nicht mit Vernunft, sondern mit unbändigem Willen ist der „Führer“ damit sehr weit gekommen – um den Preis von fünfzig Millionen Toten. Allerdings hat es, als die Kampfschrift sozusagen siebzig Jahre auf Eis lag, an wissenschaftlichen Forschungen nicht gefehlt. Daher wusste man, dass Hitler seine Herkunft und die Wiener Jahre in seinem Buch geschönt hatte. Der Stuttgarter Historiker Wolfram Pyta sagt dazu: „Hitler hat sich geradezu neu erfunden.“ Seit dem Erscheinen des Buches von Brigitte Hamann wissen wir darüber genau Bescheid. Und Thomas Weber hat mit seiner Arbeit über Hitlers Regiment auch den Kriegshelden entzaubert.
Mit dem Hang zur Theatralik
Othmar Plöckinger, der jetzt auch dem Münchner Herausgeberteam angehört, hat genau erforscht, wie „Mein Kampf“ entstanden ist. Und die in Passau lehrende Barbara Zehnpfennig hat sich intensiv mit dem Inhalt auseinandergesetzt und ihn kritisch kommentiert. Die Decouvrierung von „Mein Kampf“ hat also auch zuvor schon stattgefunden, und insofern betreten die Herausgeber jetzt kein Neuland. Sie konnten es aber nicht dabei belassen, auf diese Arbeiten nur zu verweisen. Sie wurden eingearbeitet und ergänzen erhellend den Kommentar.
Die Fülle des Materials legt es nahe, Hitlers Frühzeit zu überspringen und dort anzusetzen, wo er politisch wirksam wurde. Das beginnt bei der Sprache. Hitler wirkte durch seine theatralisch inszenierten Reden. Von diesem Hang zur Theatralik war er auch als Autor nicht frei. Die Sprache ist, so heißt es im Kommentar, „pathetisch bis zum Schwulst“. Goebbels wird mit der Bemerkung zitiert: „Nur der Stil ist manchmal unausstehlich.“
Doch die Zeitgenossen stießen sich daran nicht unbedingt. Dieser Sprachstil war damals nicht ungewöhnlich. Das allgegenwärtige biologistische Vokabular fand sich in vielen ideologischen Schriften jener Zeit, ebenso die dezidiert militaristische Metaphorik. Überrascht hat die Herausgeber aber, dass Hitler viele Fremdwörter gebrauchte, sie zählten an die siebenhundert. Das sollte wohl den Eindruck von Bildung und Belesenheit des Autors vermitteln.
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