Stuttgart - Melitina Staniouta war in Barcelona, als der Krieg in der Ukraine begann. Und sie ist immer noch dort – mehr noch: Die ehemalige Weltklasse-Athletin der Rhythmischen Sportgymnastik (RSG) hat den Entschluss gefasst, ihrem Heimatland Belarus den Rücken zu kehren. Für immer. „Wir sehen alle, was in Osteuropa gerade vor sich geht, deshalb sehe ich keine Möglichkeit, dorthin zurückzugehen“, schreibt sie auf Facebook und Instagram, wo ihr mehr als 150 000 Menschen folgen. „Ich bin jetzt in Spanien und suche hier oder in einem anderen Land einen Job als Trainerin.“
In den Sozialen Medien im Internet artikuliert die 28-Jährige aus Minsk, die in ihrer 2016 beendeten Karriere 24 Medaillen bei Welt- und Europameisterschaften gewonnen hat, mit deutlichen Worten ihren Protest gegen den Krieg in der Ukraine. „Mein Herz ist gebrochen, einige meiner engsten Freunde verstecken sich in Luftschutzbunkern oder schlafen in U-Bahn-Bahnhöfen. Stoppt diesen Krieg!“, fordert sie. „Ich bin Belarussin und ich bin gegen den Krieg. Ich verurteile die Attacke auf die Ukraine durch beide Länder – Russland und Belarus. Nichts kann einen Krieg rechtfertigen, nichts.“
Was für eine weltoffene und mündige Sportlerin Melitina Staniouta ist, hat sie auch 2015 schon bei den RSG-Weltmeisterschaften in Stuttgart gezeigt. Während die Medaillenabonnentinnen aus anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion in der Mixedzone in der Porsche-Arena nach ihren Erfolgen trotz Dolmetschern nur schmallippig mit den Journalisten kommunizierten, beantwortete die WM-Bronzegewinnerin im Mehrkampf und mit dem Ball auf Englisch offen alle Fragen zum sportlichen Geschehen und darüber hinaus.
Seit ihrem Karriereende nach dem fünften Platz bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro bereist sie die Welt und leitet Trainingscamps. Und scheut sich schon lange nicht davor, sich politisch zu äußern. So zählte Melitina Staniouta auch zu den mehr als 250 mutigen Leuten aus dem Sportbusiness, die 2020 in einem offenen Brief die Wiederwahl des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko für ungültig erklärten und die Freilassung politischer Gefangener forderten. Darüber hinaus versuchte sie seinerzeit, über ihre Kanäle in den Sozialen Medien die brutale Niederschlagung der Massenproteste gegen die mutmaßlich gefälschte Präsidentschaftswahl in die Welt hinauszutragen. Ihre wöchentliche Fitnessshow auf dem staatlichen TV-Sender ONT wurde danach abgesetzt.
Große Opfer im Kampf für Frieden und Humanität
Jetzt will die hoch dekorierte Ex-Athletin und Promi-Unterstützerin der UN-Flüchtlingshilfe (UNHCR), in Belarus eine bekannte Persönlichkeit und auch als Werbegesicht gefragt, ihr Heimatland nicht mehr betreten. Sie lässt Familie und Freunde zurück, ihre Wohnung oder auch ihr Auto. Sie sucht einen neuen Ort zum Leben und Arbeiten. Mit jedem Tag wächst bei ihr jedoch spürbar die Verzweiflung, dass sie keinen dauerhaften Unterschlupf findet, bevor ihr Touristenvisum ausläuft.
„Niemand sollte fühlen müssen, was eine Mutter fühlt, die sich mit ihrem Kind in diesen Tagen in einem U-Bahn-Bahnhof in Kiew verstecken muss“, findet Melitina Staniouta. „Niemand sollte sich schämen oder fürchten, sich für Frieden und Humanität einzusetzen. Danke an alle Russen und Belarussen, die das bereits getan haben.“ Sie wirbt genau deshalb auch dafür, dass in der Weltöffentlichkeit jetzt nicht alle Russen und Belarussen über einen Kamm geschert werden.
Sie erlebt das selbst schmerzlich. Wegen ihrer Herkunft werden zurzeit plötzlich Jobengagements wie Showauftritte mit dem Verweis auf politische Bedenken zurückgezogen. Wenn sie in ihrer Muttersprache telefoniert, stehen die Leute auf der Parkbank neben ihr auf. Das macht sie traurig, wie sie gegenüber unserer Redaktion äußert: „Selbst wenn du jahrelang gegen Diktatur und Lukaschenko warst, aber eben die belarussische Staatsbürgerschaft hast, bist du jetzt ein Aggressor – das bricht die Herzen vieler Belarussen.“ Sie versucht deshalb aktiv in den Sozialen Medien aufzuklären. „Die Mehrheit der Belarussen ist gegen den Krieg, sie wird aber in Belarus nicht gehört, schon seit vielen Jahren.“ Davon hat sie genug, deshalb will sie nicht mehr zurückkehren.