Menschen mit Behinderung im Kreis Esslingen Auf den Spuren der Nazi-Gräueltaten in Grafeneck

Schloss Grafeneck im Jahr 1930, damals Samariterstift, ein Heim für körperlich und geistig behinderte Männer. 1939 wurde das Gebäude beschlagnahmt und zur Tötungsanstalt umgebaut. Foto:  

Auf einer Studienfahrt zur Gedenkstätte Grafeneck vergegenwärtigt sich eine Besuchergruppe der Werkstätten Esslingen und Kirchheim die Gräueltaten der Nationalsozialisten.

Von Januar bis Dezember 1940 wurden in Grafeneck mehr als 10 600 Menschen ermordet, ist auf der Website der heutigen Gedenkstätte zu lesen. Die Opfer stammten aus Krankenanstalten und Heimen in Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen – unter ihnen auch Menschen aus dem Kreis Esslingen.

 

Auf einer Studienfahrt zu der Gedenkstätte hat sich eine Besuchergruppe der Werkstätten Esslingen Kirchheim (WEK) vergegenwärtigt, „was Geschichte in sich hat und dass so etwas nie mehr passieren darf“, wie einer der Teilnehmer, der bei den WEK arbeitet und seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, berichtet. „Hätten wir zu dieser Zeit gelebt, hätten wir das sicher nicht überlebt“, sagt er.

Eine gewisse Angst ist bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Exkursion durchaus vorhanden, dass sich so etwas in Deutschland wiederholen könnte, wie sie sagen. Beunruhigt sei man auch über das Erstarken von extremistischen Kräften in der Politik, aber auch wegen der Kriege und Krisen dieser Tage.

Bildung als Kern der Demokratie

Das damals bei den Nationalsozialisten herrschende Menschenbild wird in der Gedenkstätte Grafeneck auf einem Plakat aus dieser Zeit verdeutlicht: Ein offenbar gesunder, kräftiger Mann ist darauf zu sehen, der auf seinen Schultern zwei erkrankte oder beeinträchtigte Menschen trägt. Die Botschaft der Nationalsozialisten war klar: Erkrankte sind eine Last für die Gemeinschaft. Doch die Besuchergruppe ist sich einig: Alle Menschen, gleich welcher Nation, Religion und ob mit oder ohne Behinderung, sind gleich wertvoll und haben dieselbe Würde.

Die Studienfahrt, die künftig regelmäßig angeboten werden soll, dient auch der politischen Bildung, sagt Volker Ditzinger, Geschäftsführer der Werkstätten Esslingen Kirchheim. Denn auch „Menschen mit Beeinträchtigung sind Wähler“ und sollen mündig entscheiden können, wie sie mit ihrer Stimme umgehen. „Bildung ist der Kern einer demokratischen Gesellschaft“, ist er überzeugt. Beim Thema Inklusion sei die Akzeptanz zwar gestiegen, manchmal werde die Debatte allerdings zu „verkopft“ geführt, statt die „Menschen einfach so zu akzeptieren, wie sie sind“.

Auf politischer Ebene wurde in jüngster Vergangenheit immer wieder diskutiert, ob es inklusive Bildung an Schulen oder Werkstätten für Menschen mit Handicap überhaupt brauche, sagt Ditzinger. Menschen mit Behinderung erhalten jedoch auf diese Weise die Möglichkeit, am sozialen und beruflichen Leben teilzunehmen, etwa in einem geschützten Rahmen wie den WEK. Denn nicht alle Menschen seien für den ersten Arbeitsmarkt geschaffen. Einige Leute würden sich Einrichtungen für Menschen mit Handicap „schlimm“ vorstellen, aber „hier ist niemand zu bedauern“, sagt er.

Diskriminierung begegnet auch den Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studienfahrt immer wieder. „An einer Bushaltestelle hat mir einmal ein Ehepaar gesagt, ich soll weggehen“, sagt etwa Andrei Balan, der ebenfalls bei den Werkstätten beschäftigt ist. Auch Markus Geisser schildert einen Vorfall, den er kürzlich erlebt hat: An einer Stadtbahnhaltestelle haben zwei Leute lautstark über eine Frau mit Kopftuch gelästert. Da habe er einschreiten müssen und gesagt, dass er so etwas nicht hören wolle. „Gegen Rechts tauchen wir auf und wollen ein Zeichen setzen“, sagt Geisser.

Vor allem die Widerstandskämpfer haben bei der Besuchergruppe bleibenden Eindruck hinterlassen. Widerstand wurde auch seitens mancher Einrichtungen geleistet. Denn diese wurden dazu aufgefordert, eine sogenannte Bestandsliste der Personen, die in ihrer Obhut standen, zu erstellen, wobei „Rasse“, „Behinderung“ und „Art der Beschäftigung“ vermerkt wurden. Manche Einrichtungen haben sich geweigert, dies zu tun. Aber auch die Geschichten von Eltern, die ihre Kinder beim Spazierengehen scheinbar entführt haben, um sie vor dem sicheren Tod in Grafeneck zu schützen, waren Thema bei der Exkursion.

Täter nicht zur Verantwortung gezogen

Geschockt waren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer darüber, dass Täter nicht zur Verantwortung gezogen worden sind, sagt Silke Frisch, Geschäftsführerin der Werkstatträte Baden-Württemberg. Besonders schlimm sei auch der Begriff der „Euthanasie“, der eigentlich „schöner Tod“ oder „gutes Sterben“ bedeutet.

Heute leben in Grafeneck wieder Menschen mit Beeinträchtigungen. Nachdem das Schloss im Jahr 1945 von der französischen Besatzungsbehörde genutzt worden war, wurde es 1946/47 an die Samariterstiftung zurückgegeben. Die bei Kriegsbeginn aus Grafeneck vertriebenen behinderten Menschen, die den Krieg überlebt hatten, zogen anschließend wieder in das Schloss ein. Grafeneck wird seitdem wieder von der Samariterstiftung genutzt und ist Lebensraum, Wohnort und Arbeitsplatz für körperlich behinderte sowie psychisch erkrankte Menschen. Das sei ein sehr wichtiges Zeichen, sagt Andrei Balan. In den Jahren 1989/90 wurde die frei zugängliche Gedenkstätte Grafeneck eingerichtet, um an die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen zu erinnern.

Die Werkstätten Esslingen Kirchheim

Firmenverbund
Die Werkstätten Esslingen Kirchheim sind Teil des Verbundes Arbeg Care und Arbeg Inklusion. Neben der Werkstatt für Menschen mit Behinderung werden auch Beratungsangebote, Assistenz im Berufsleben sowie Unterstützung bei der Arbeitsaufnahme angeboten. Während die WEK den Schwerpunkt auf Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung legt, liegt der Schwerpunkt der Arbeg bei Menschen mit einem psychischen Handicap.

Bereiche
Neben der Werkstätte und der Inklusionsfirma bietet unser Firmenverbund Menschen mit Handicap außerdem die Möglichkeit, in drei Cafés in Esslingen, Plochingen und Kirchheim unter Teck sowie einem Lebensmittelladen „Um’s Eck“ in Plochingen am Stumpenhof oder dem „Maultaschenlädle“ in Deizisau zu arbeiten.

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