Anders als ihr Konkurrent Martin Schulz wirkt Angela Merkel in diesen Tagen lustlos und wenig kämpferisch. Ihr Umfeld aber erzählt eine ganz andere Geschichte.

Stuttgart - Noch so ein schwieriger Termin, den Angela Merkel mit dem Ministerpräsidenten Youssef Chahed im Kanzleramt absolviert. Schließlich war die langwierige Dokumentenbeschaffung seiner tunesischen Instanzen neben den Koordinationsmängeln unter den deutschen Behörden auch ein Grund dafür, dass der Berliner Attentäter Anis Amri kurz vor Weihnachten noch nicht aus Deutschland abgeschoben werden und deshalb zur Tat schreiten konnte. Merkel besucht am Dienstag mit Chahed den Breitscheidplatz, legt Blumen nieder – und redet darüber, wie Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber nach Nordafrika künftig einfacher werden könnten.

 

Angela Merkel scheut diese heiklen Momente nicht, sie scheint sie in den vergangenen beiden Wochen förmlich zu suchen: Sie saß zur offiziellen Versöhnungsfeier neben CSU-Chef Horst Seehofer, auf dem Plüschsessel beim türkischen Möchtegern-Sultan Recep Tayyip Erdogan, rang den SPD-Ministerpräsidenten ein Ja zum neuen Abschiebepakt ab und ließ sich vom polnischen Rechtsparteichef Jarosław Kaczynski die Hand küssen. Sind das nicht alles Zeichen dafür, dass sie sich für nichts zu schade ist, um die aus dem Lot geratenen Dinge in Deutschland und Europa wieder geradezubiegen? Dass sie voller Überzeugung regiert und weiter regieren möchte?

In der Union rumort es

Die Zweifel daran hat Angela Merkel mit ihren Auftritten selbst gesät. Erst ließ sie scheinbar teilnahmslos beim Münchner Versöhnungsgipfel den Humor ihres unionsinternen Gegenspielers über sich ergehen, wenige Tage später verkaufte sie den größten CDU-Erfolg seit langer Zeit wie einen Ladenhüter, obwohl die harte Hand gegenüber abgelehnten Asylbewerbern der zuletzt so verstörten konservativen Klientel doch gut gefallen könnte. Währenddessen schoss SPD-Strahlemann Martin Schulz in den Umfragen an ihr vorbei – Demoskopen machen die Anfänge einer ausgeprägten Wechselstimmung aus, Worte wie „Kanzlerinnendämmerung“ wieder die Runde.

In der Union rumort es angesichts des wenigen, was die Kanzlerin der sozialdemokratischen Aufbruchstimmung zuletzt entgegenzusetzen hatte. „Bei uns gibt es keine“, sagt ein Mitglied des CDU-Bundesvorstands trocken. Ein Bundestagsabgeordneter klagt sein Leid darüber, dass Merkel die Punktsiege ihrer Partei gerade in der Asylpolitik kaum an die Leute bringt: „Wir feiern einen Unionserfolg nach dem anderen, aber das Marketing ist einfach grauenhaft – da könntest du nur heulen.“ Nicht nur er hofft, dass „die Kanzlerin bald Klartext redet“. Auch aus der CSU-Zentrale heißt es: „Wir brauchen eine aktivere, kämpferischere Kandidatin.“ In einer internen Runde in München, so wird kolportiert, soll der christsoziale Ehrenvorsitzende Edmund Stoiber Merkels jüngste Auftritte im bayerischen Idiom so bewertet haben: „Die darf net so lätschert sein.“

Die SPD kann ihr Glück nicht fassen

Auch die Konkurrenz staunt und kann ihr Glück kaum fassen, weil die SPD nicht nur über einen Kandidaten verfügt, der die SPD wie aus dem Nichts wieder sexy gemacht hat, sondern auch einer Kontrahentin gegenübersteht, die sich nicht zu wehren scheint: „Sie sagt nur, dass sie Kanzlerin bleiben will, sagt aber nicht, warum“, rätselt ein Stratege im Willy-Brandt-Haus. „Sie unternimmt nicht einmal den Versuch, so zu tun, als ob sie sich freue.“

Das Bild von der vielleicht niedergeschlagenen oder demotivierten, zumindest aber uninspirierenden Kanzlerin entspricht aber – wenn man ihrem direkten Umfeld oder den Erzählungen aus internen Sitzungen glauben darf – nicht der Realität. Als Beispiel taucht in vielen Gesprächen das Wochenende der Bundesversammlung auf. „Gelöst“, „humorvoll“ und „fröhlich“ lauten die entsprechenden Adjektive. Im Gegensatz zum normalen Bundestagsgeschäft hat vor der Bundespräsidentenwahl Angela Merkel als Parteichefin dort den Fraktionsvorsitz innegehabt, mit Horst Seehofer als Stellvertreter an ihrer Seite. „Sie hat mehrfach über diese klare Rollenverteilung gewitzelt“, berichtet die Stuttgarter Bundestagsabgeordnete Karin Maag. „Sie war extrem gut drauf, sie hat nach meiner Erinnerung sogar das Wort ,Spaß‘ benutzt.“ Ein anderer sagt: „Das war wieder die alte Merkel.“

„Ich erlebe sie voll motiviert“

Kampfeslust gar wird ihr attestiert. Als der Baden-Württemberger Konrad Epple an diesem Sonntag aufstand und fragte, warum er jetzt auch noch einen Sozi zum Bundespräsidenten wählen solle, überließ Merkel die Antwort nicht dem Kandidaten Frank-Walter Steinmeier, sondern verteidigte ihr Vorgehen. „Vielleicht hat sie sich da am Riemen gerissen, weil sie gesehen hat, was so eine Miene bewirken kann“, meint Maag. Gemeint ist ihre Performance in München, die ihre Partei – zumindest zwischenzeitlich – schon ins Grübeln gebracht hat.

In einer zweiten Sitzung, ohne den sozialdemokratischen Gast Steinmeier, hat Merkel Teilnehmern zufolge dann sogar selbst die Motivatorin gegeben: „Wir sollten jetzt keine schlechte Laune haben, nur weil die anderen einmal keine schlechte Laune haben.“ Sie habe sich ihre Kandidatur „lange überlegt, steht jetzt aber voll dahinter – ich erlebe sie im Moment voll motiviert“, sagt jemand aus ihrem engsten Mitarbeiterkreis. Gleichwohl wird auch dort eingeräumt: „Wir hätten uns sicherlich eine bessere Ausrufung der Kanzlerkandidatin vorstellen können.“

Erklärungsversuche und Entschuldigungen

Im Kanzleramt und den CDU-Gremien streuen sie daher eine Reihe von Erklärungsversuchen für die Darbietungen ihrer Chefin: Erstens seien ja einige Dinge vorgefallen, allen voran der Terroranschlag von Berlin, „die einen nicht in Euphorie verfallen lassen“. Zweitens sei der distanzierte Auftritt in München „bewusst gesetzt“ worden, weil nach der Vorgeschichte zwischen Merkel und Seehofer eine Friede-Freude-Eierkuchen-Inszenierung unglaubwürdig gewesen wäre, heißt es da: „Sie hat schon vorher gesagt, dass sie sich definitiv nicht auf seine Scherzchen einlassen wird.“ Und drittens sei die Vorgesetzte bekanntlich nicht nur selbst eine sehr nüchterne Person, sondern auch die jüngste Ministerpräsidentenkonferenz eine traditionell nüchterne Veranstaltung, der immer eine nüchterne Bekanntgabe der Ergebnisse folge. Eine vierte, nicht öffentliche Erklärung aus dem eher konservativeren Spektrum der CDU geht dahin, dass ihre Vorsitzende weiter mit dem derzeit dominierenden Themenkomplex innere Sicherheit fremdelt, eigentlich eine der Kernkompetenzen der Union.

Das klingt dünn, ein wenig ratlos gar. Die Unionisten jedenfalls ziehen sich daran hoch, dass an dem festgestellten Widerspruch zwischen Innen- und Außendarstellung in den sieben Monaten bis zur Bundestagswahl gearbeitet werden kann. „Das, was sie intern ausstrahlt, muss sie auch öffentlich ausstrahlen“, sagt einer aus der Parteispitze.

Begegnung mit der Travestiekünstlerin Olivia Jones

Von dieser Diskrepanz erzählen auch die vielleicht besten Bilder von der Bundespräsidentenwahl. Sie zeigen die Kanzlerin, angeblich an diesem Wochenende ja bestens gelaunt, mal verschreckt oder leicht gequält lächelnd, als die Travestiekünstlerin Olivia Jones im grellbunten Outfit ihren Arm um die Kanzlerinnenschulter legt. In Wahrheit jedoch war an der Situation überhaupt nichts Verdruckstes: Der Paradiesvogel Jones berichtete später, wie „super“ Merkel die Einladung auf einen Kaffee in St.Pauli während des Hamburger G-20-Gipfels Anfang Juli konterte: „Es wäre für sie schwierig, aber sie würde mir Trump vorbeischicken“, so Jones. „Ich mag ihren trockenen Humor.“

Den haben sie auch in der Bundesvorstandssitzung am Montag und der Fraktionssitzung am Dienstag wieder gehört. Teilnehmer berichten, dass Merkel nicht etwa eingeschüchtert sei vom überraschenden Aufwärtssog der Sozialdemokraten unter Schulz, sondern dieser klassischen Auseinandersetzung eher mit freudiger Erwartung entgegensehe. Die kühle Denkerin sieht nicht nur die eigene Partei durch das Aufkommen eines ernsthaften Gegenkandidaten wieder zusammenrücken, sondern auch die politischen Ränder durch das Duell der großen Parteien potenziell geschwächt. Ihr neues Credo in beiden Sitzungen: „Konkurrenz belebt das Geschäft.“