Die berühmte Rede des französischen Präsidenten Charles de Gaulle vor 50 Jahren war Grundlage für die Einheit Europas und ist Verpflichtung für die heutigen Politiker, meint der StZ-Chefredakteur Joachim Dorfs.

Chefredaktion: Joachim Dorfs (jd)

Stuttgart - „Sie alle beglückwünsche ich.“ Mit diesem Satz begann die Rede des französischen Präsidenten Charles de Gaulle an die deutsche Jugend am 9. September 1962 im überfüllten Hof des Ludwigsburger Schlosses. Ein Kämpfer gegen die Nazis beglückwünschte junge Deutsche 17 Jahre nach Kriegsende, „Kinder eines großen Volkes zu sein“ – ein unerhörter Vorgang. Seine kurze, auf Deutsch gehaltene und immer wieder von Applaus unterbrochene Rede endete mit seiner Aufforderung zur Aussöhnung: Gegenseitiges Vertrauen und die Freundschaft beider Völker bilde die Grundlage für Europas Einheit.

 

Fast genau 50 Jahre nach der historischen Rede stehen François Hollande und Angela Merkel am Samstag in eben jenem Schlosshof. Ein bahnbrechendes Treffen ist es glücklicherweise nicht mehr. Es hat inzwischen viele Versöhnungsgesten gegeben, und die Verbindungen sind so eng, wie sie nur sein können: Zehntausende von jungen Deutschen und Franzosen lernen die andere Sprache und besuchen das Nachbarland; in Hunderten von Städtepartnerschaften kommen Bürger zusammen, es gibt deutsch-französische Gemeinschaftsunternehmen zuhauf, permanente Regierungstreffen und vieles mehr. Die Saat de Gaulles ist aufgegangen.

Sollbruchstelle zwischen den Lagern

Und doch stehen Merkel und Hollande heute vor großen Herausforderungen, den bilateralen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten. Das liegt weniger daran, dass die Kanzlerin und der neue Präsident noch fremdeln, sondern vielmehr daran, dass die Eurokrise einen Spalt in die Europäische Union getrieben hat. Wer Stereotype bemüht, sieht hier die stabilitätsorientierten, wirtschaftsstarken Nordstaaten und dort die finanzpolitisch laxeren und latent bedrohten Länder Lateineuropas, die mit zum Teil verzweifelten Sparmaßnahmen versuchen, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Die Sollbruchstelle zwischen beiden Lagern verläuft – genau – zwischen Deutschland und Frankreich.

Frankreich droht der „Sog des Südens“, befürchtete Hollandes Vorgänger Nicolas Sarkozy, und Hollande erbte dessen Probleme. In seinem Buch „Frankreich, in kritischem Zustand“ beschreibt Jean Peyrelevade, der sozialistischen Premierministern als Wirtschaftsberater gedient und selbst lange die Staatsbank Crédit Lyonnais geleitet hat, die Strukturschwächen der Grande Nation: fehlende Wettbewerbsfähigkeit vieler französischer Unternehmen, zu starke Regulierung des Arbeitsmarkts, soziale Sicherungssysteme, die dem demografischen Wandel nicht standhalten, zu große Abhängigkeit der Wirtschaft vom Staat und seinen Ausgaben. Der aber muss sparen, weil Budgetdefizit und Staatsverschuldung zu hoch sind. Der frisch gewählte Präsident Hollande jedoch mag seinen Wählern den Realitätsschock noch nicht zumuten.

Europa kann nur als Ganzes Erfolg haben

In Deutschland hingegen ist die Erkenntnis noch nicht ausgeprägt, dass Europa entweder als Ganzes erfolgreich ist oder aber als Ganzes scheitert. Angesichts der engen Verflechtungen wird Deutschland ohne eine wirtschaftliche Gesundung in Italien, Spanien oder eben Frankreich seinen Wohlstand nicht halten können. Ein Nord-Euro oder eine Rückkehr zur D-Mark sind nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch abwegige Fantasien. Denn wenn Europa in der Welt eine Rolle spielen will, dann geht das allenfalls gemeinsam, nicht aber balkanisiert.

Merkel und Hollande müssen ihrer Verantwortung gerecht werden. Der Präsident muss die Strukturprobleme Frankreichs ähnlich entschlossen angehen wie seine südlichen Nachbarn Spanien und Italien. Dafür braucht er die Unterstützung Deutschlands und den Mut der Kanzlerin, den angeschlagenen Staaten gegen die Mehrheitsmeinung weiterhin zu helfen. Das wird nicht einfach. Und doch ist es eine überschaubare Aufgabe – verglichen mit dem Mut zur Aussöhnung nach dem Krieg.