Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen bilden die Generalprobe für die große Bundesbühne im Herbst. Angela Merkel und Martin Schulz hängen sich entsprechend rein – jeder auf seine Art und mit eigenen Problemen.

Bonn/Kiel - Schaulustige säumen die Auffahrtsrampe zur Stadthalle im Bonner Bezirk Bad Godesberg. Als Angela Merkels Limousine vorfährt, strecken sie fast alle ihre Handys in die Höhe. Gekreischt wird für den politischen Weltstar nicht, es ist im Gegenteil merkwürdig ruhig, als der nordrhein-westfälische CDU-Spitzenkandidat Armin Laschet die Kanzlerin in Empfang nimmt. Erst beim Hineingehen begleitet sie vorsichtiger, respektvoller Applaus.

 

Merkel begeistert nicht, sie beeindruckt. Phasenweise ist es mucksmäuschenstill im Saal, als sie über ihr Verständnis von Demokratie und Wahlen doziert: Dass nun in NRW und später in ganz Deutschland weniger über konkrete Entscheidungen abgestimmt wird, sondern über die Personen, die sie treffen müssen, wenn immer mehr unvorhergesehene Entwicklungen eintreten. Das ist die Botschaft vom Stabilitätsanker in einer wilden Welt.

„Saudi-Arabien, Sotschi, Waldbröl“

Die nächste Station heißt Waldbröl. Die Turnhalle ist nach hinten hinaus nicht ganz voll. Den größten Eindruck hinterlässt auch hier, dass die Weitgereiste nun unter ihnen weilt. „Saudi-Arabien, Sotschi, Waldbröl“ – mehr muss der örtliche CDU-Funktionär nicht sagen, um im Publikum ein wohliges Kribbeln auszulösen. Und auch Merkel lächelt über den Auszug aus ihrem Terminkalender in dieser Woche. Erst mit arabischen Unternehmerinnen sprechen, dann Wladimir Putin sein Sündenregister vorhalten und schließlich die Stimmung im eigenen Land aufsaugen. „Das“, sagt jemand aus ihrem direkten Umfeld, „empfindet sie als das Schöne an ihrem Beruf.“

Die Parteichefin und ihre Strategen im Adenauerhaus sind sich aber bewusst, dass es nicht mehr reicht, die Kanzlerin nur als Weltstaatsfrau mit Raute zu präsentieren oder im TV-Duell „Sie kennen mich“ zu sagen. Zu viel ist seit der letzten Bundestagswahl passiert, zu laut tönten „Merkel-muss-weg“-Rufe durch das Land, zu tief gingen die Vorwürfe aus der Schwesterpartei CSU. Die Bürger sollen hören, dass der Bezug zwischen internationaler und nationaler Politik nicht verloren gegangen ist. „Es geht um Ihr Leben“ lautet einer der wenigen Sätze, die Merkel an diesem Tag identisch sowohl in Godesberg wie in Waldbröl benutzt.

Merkel hat ihre Angriffslust wiedergefunden

Die Welt und Europa tauchen nur am Rande auf. Es geht um Bildung, darum, dass im SPD-regierten Hannelore-Kraft-Land die meisten Stunden ausfielen, die meisten Einbrüche begangen und die wenigsten Straßen neu gebaut würden. „Da läuft doch was schief“, sagt Merkel, die zuletzt ihre Angriffslust wiedergefunden hat – was aus der nordrhein-westfälischen Oppositionsrolle heraus auch leichter fällt.

Sie selbst stellt sich als die eigentliche Kümmererin dar, die Geld für Schulen, Kitas, Pflege und Kommunen bereitgestellt hat, aber auch nicht zu viel Staat will, sondern Freiräume für das eigene Unternehmertum lässt. „Das“, so Merkel, „ist CDU-Politik.“ Ihre umstrittene Flüchtlingspolitik handelt sie kurz ab: 2015 werde sich nicht wiederholen, doch sei die Aufnahme so vieler Menschen zugleich „ein starkes Stück Deutschland“ gewesen.

Der Mann an der mobilen Wurstbude ist jedenfalls wieder angetan von seiner Kanzlerin. „Die hat natürlich gesprochen – nicht mit so vielen Fremdwörtern wie im Bundestag.“ Als locker und witzig hat er den Schlussmonolog erlebt. „Wenn Sie gleich nach Hause kommen, werden Sie bestimmt gefragt: Wie war’s denn? Was hat die Merkel angehabt? Hat sie müde gewirkt?“ hat die Kanzlerin da unter lautem Gejohle gesagt, um dann darum zu bitten, lieber über die so wichtige Wahl und natürlich das „ordentliche Angebot“ der CDU zu diskutieren.

Der Merkel-Zug scheint an Fahrt aufzunehmen

Merkel greift damit selbst auf, dass sie lange nach außen hin ein wenig teilnahmslos wirkte. Ihr Umfeld behauptet, sie sei „nicht so depressiv gewesen“ – nur in der Partei hätten viele gefürchtet, der sozialdemokratische Schulz-Zug könne sie überrollen. Nun jedoch liegt die Saarwahl hinter ihnen, und auch die Umfragewerte in den Ländern tauchen vieles in ein milderes Licht – auch wenn es noch die ein oder andere Stimme gibt, die klare Kernforderungen vermisst. „Seit die Kanzlerin nicht mehr aus den eigenen Reihen attackiert wird, läuft die Nummer“, sagt Herbert Reul. Der Europaabgeordnete, der auch bei den Bundesvorstandssitzungen dabei ist, sieht auch die Spitzenkandidatin neu motiviert: „Angela Merkel ist wieder ganz bei sich – sie hat wieder die Sicherheit, dass die Partei sie unterstützt.“

Zumindest schätzt sie die Sicherheit, dass ihr mit größerer Wahrscheinlichkeit keine desaströsen CDU-Landtagswahlergebnisse ins Haus stehen, die vor der Bundestagswahl große Krisengeschichten heraufbeschworen hätten. Sonst gelten ihr die aktuellen Zahlen nur als Momentaufnahme, ehe im September die wirklich entscheidenden Wahlkampfwochen beginnen.

Stehende Ovationen erhält die Kanzlerin nach ihren Reden in Godesberg und Waldbröl. Sie klingen nicht frenetisch, sondern anerkennend – langsam scheint auch der Merkel-Zug Fahrt aufzunehmen.

Martin Schulz – der Herausforderer und Hoffnungsträger

Raisdorf, Preetz, Plön: Planmäßig fährt Regionalexpress 21631 seine Ziele an auf dem Weg von Kiel nach Lübeck. Draußen, auf den Bahnsteigen, jubeln die Genossen. Mitglieder der Ortsvereine trotzen Nieselregen und böigem Wind, schwenken SPD-Fahnen und rote Schals, einem einzigen Fahrgast zu Ehren. Denn drin sitzt im Abteil, das die SPD angemietet hat, Martin Schulz: Kanzlerkandidat, Mister 100 Prozent, noch immer der Star ihrer Mehrheitsträume.

In Schleswig-Holstein wird an diesem Sonntag gewählt, und die Landespartei hat sich anlässlich der letzten Großveranstaltungen in Kiel und Lübeck etwas Besonderes einfallen lassen. Sie hat einen echten „Schulz-Zug“ aufs Gleis gesetzt. Internet-Nerds haben sich das virtuelle Motiv eines Zugs ausgedacht, der „ohne Bremsen“ durch die Republik rast, direkt ins Kanzleramt. Ankunft: der Tag der Bundestagswahl, 24. September, 18 Uhr. Aber im wahren Leben kommt zwar nicht der Regionalexpress, dafür aber die Kampagne des Herausforderers ins Stocken. Es drohen Rückschläge, bei der Bahn nennt man so etwas: „Verzögerungen im Betriebsablauf“.

Schulz wird mit alarmierenden Zahlen konfrontiert

Das Gesicht des Spitzenkandidaten, der drinnen neben Ministerpräsident Torsten Albig Platz genommen hat, steht deshalb in seltsamem Kontrast zu den Fans am Streckenrand, die sich über sein kurzes Winken freuen wie weibliche Teenager über eine Kusshand von Justin Bieber. Schulz wird fortwährend mit alarmierenden Zahlen konfrontiert. Die Werte für die SPD im Bund und im Land gehen stetig bergab. Ein Smartphone wird herumgereicht: neue Umfragezahlen aus Nordrhein-Westfalen. Die rot-grüne Koalition, so viel ist klar, hat an Rhein und Ruhr kaum noch Chancen. Wenn es gut läuft, kann sich die SPD in eine große Koalition unter sozialdemokratischer Führung oder in ein sozialliberales Bündnis retten. Geht es schief, muss Hannelore Kraft die Staatskanzlei räumen.

Wenig später dann, die nächste Schockdiagnose: Auch in Schleswig-Holstein würde es nach jetzigem Stand nicht mehr für die bestehende sogenannte Küstenkoalition aus SPD, Grünen und Südschleswigschem Wählerverband reichen. Kann sein, dass noch eine Ampel mit der FDP möglich ist, aber das wäre nicht der noch vor wenigen Wochen erhoffte triumphale Auftakt zum Sturm des Kanzleramts. Man hätte lediglich den Kopf aus der Schlinge gezogen.

Schulz ist in solchen Momenten kein guter Schauspieler. Man sieht, dass ihm das zusetzt. Der 61-Jährige hat bei seinen vielen Auftritten ein völlig anderes Gefühl gewonnen, sieht noch immer euphorische Menschen, an diesem Tag in Kiel, Lübeck, auf den Bahnsteigen. Seine Sicht der Dinge lässt sich deshalb wie folgt beschreiben: Das darf doch alles nicht wahr sein.

NRW ist eine andere Hausnummer als das Saarland

Während Albig und der Landeschef Ralf Stegner versuchen, gute Miene zum schlechten Zahlenspiel zu machen, sitzt Schulz wie abwesend daneben. Er weiß, welche Schlagzeilen ihn erwarten, wenn die Wahlen schiefgehen. Er hat das bei der Saarland-Wahl schon einmal erlebt – da träumte man vorher bereits von Rot-Rot. Am Ende räumte Amtsinhaberin Annegret Kramp-Karrenbauer von der CDU ab. „Schulz-Zug entgleist“ oder „Der Zug hält nicht in Saarbrücken“ – so lauteten die Schlagzeilen. Was halt geschrieben wird, wenn sich Übermut plötzlich ins Gegenteil verkehrt. Dabei war nur eine Wahl zu verdauen, bei der in etwa so viele Menschen zu den Urnen gerufen worden waren, wie andernorts in einem einzigen Landkreis. In NRW sind am 14. Mai mehr als 13 Millionen Menschen wahlberechtigt, man spricht von einer „kleinen Bundestagswahl“ – eine andere Hausnummer.

Im Zug gibt sich Schulz wieder kämpferisch, soll nur keiner glauben, die Sache sei gelaufen: „Als ich gewählt wurde, lag die SPD bei maximal 21 Prozent in den Umfragen. Jetzt liegen wir bei 29 bis 30 Prozent.“ Wenn das so weiter gehe, sei die Sache geritzt. Klingt tapfer. Aber nach Niederlagen in Kiel und Düsseldorf wäre die Zuversicht, die Schulz der SPD anfangs vermittelt hat, wieder dahin. Dann begänne das Spiel wieder von vorne. Ganz ohne Hype und ohne Reiz des Neubeginns. Hadern und Nörgeln und Zweifeln inklusive, denn auch in diesen Disziplinen ist die SPD ganz groß.

Ein zur Normalgröße geschrumpfter Herr Schulz würde dann eine Kanzlerin herausfordern, die auf dem G-20-Gipfel in Hamburg mit US-Präsident Donald Trump und seinem russischen Gegenpart Wladimir Putin verhandelt und die mit Barack Obama auf dem Evangelischen Kirchentag vor dem Brandenburger Tor plaudert. Wie schwer es Schulz mittlerweile fällt, Aufmerksamkeit zu erzielen, hat sich in der vergangenen Woche gezeigt. Da begegnete Merkel in Berlin Ivanka Trump, während Schulz sich zeitgleich dem Inhaber einer Fischräucherei in Eckernförde bekannt machte. Die eine drang damit in alle Medien, dem anderen drang der Rauch in alle Fasern des neuen Anzugs. Man mag das nicht fair finden. Aber auch das ist Politik.