Als Wissenschaftler hat Joachim Sauer, der Ehemann von Kanzlerin Angela Merkel, immer viel Anerkennung gefunden. Und er forscht nun auch jenseits der 65-Jahre-Grenze eifrig weiter.

Stuttgart - Es könnte schwerfallen, die Forschung eines Mannes zu erklären, der als Professor für theoretische Chemie internationale Anerkennung gefunden hat. Die wichtigsten Bestandteile seiner Arbeit bleiben den meisten Menschen fremd. Supercomputer, höhere Mathematik, Quantenchemie, katalytische Prozesse? Wo soll man beginnen, wenn der Autor den Leser nicht damit locken will, dass es sich um Joachim Sauer, den Mann der Bundeskanzlerin, handelt? Mit einem Lob von Sauers Kollegen und Konkurrenten. Sie formulieren das Besondere an seiner Arbeit in zwei Sätzen: „Die Merkmale seiner Forschung waren stets höchste Qualität und grundlegende Bedeutung“, schrieben Marek Sierka und Martin Quack anlässlich Sauers 65. Geburtstags. Ihm sei es „auf eine beeindruckende Weise gelungen, auf einem Gebiet, das von widersprüchlichen und bedeutungslosen Forschungsergebnissen geplagt war, richtungsweisende Beiträge zu leisten“.

 

Joachim Sauer, Chemiker an der Humboldt-Universität Berlin, hat neue Rechenverfahren etabliert, mit denen chemische Prozesse präzise beschrieben werden können, die schon lange bekannt, aber in den 1990er Jahren nur wenig verstanden waren. Die Industrie verwendet solche Prozesse schon seit Jahrzehnten im großtechnischem Maßstab. Sie nutzt die besonderen Eigenschaften der Oberfläche von Zeolithen, einer Gruppe von Mineralen: An ihr binden sich mehrere kleine Ausgangssubstanzen, die sich dann unter dem Einfluss des Zeoliths zu einer neuen, meist größeren Substanz verknüpfen – dem gewünschten Produkt. Zeolithe fungieren in diesem Prozess als Katalysator, und Sauers quantenchemische Simulationen am Computer konnten aufklären, was dabei genau passiert. Die aktiven Zentren dieser Katalysatoren seien oft so dünn gesät und ungeordnet, dass eine experimentelle Bestimmung schwierig oder gar unmöglich wäre, erläuterte Sauer.

Sauer fand einen Trick, komplexe Systeme zu berechnen

Das Rüstzeug für diese Berechnungen – die mathematischen Gleichungen – haben andere Wissenschaftler schon viele Jahre früher bereitgestellt. Sie erklären, wie sich die Elektronen in den chemischen Bindungen verhalten und wie sich die einzelnen Atome anordnen werden. Aber das System erwies sich als zu komplex, als dass es von Computern berechnet werden konnte. Joachim Sauer fand einen Trick. Er kombinierte verschiedene Verfahren in einem Programm, die sogenannte quantenmechanisch-molekularmechanische QM/MM-Hybridmethode. Mit ihr kann der Rechenaufwand für den Computer deutlich reduziert werden, ohne dass es zu einem wesentlichen Verlust an Genauigkeit kommt, obwohl gleichzeitig die besondere Struktur der Oberfläche des Materials berücksichtigt wird. Damit wurde die spezielle Chemie, die an definierten Oberflächen abläuft, plötzlich für die theoretische Chemie zugänglich. Was Sauer für Zeolithe entwickelte, wurde von ihm und anderen Forschern auf weitere Probleme übertragen.

Joachim Sauer vermag den Sinn seiner Arbeit selbst Schülern zu vermitteln. Er erzählt gern von James Watson und Francis Crick, die für die Entdeckung der berühmten Doppelhelix-Struktur der DNA den Nobelpreis bekamen. „Sie haben viele Strukturmodelle entworfen, zunächst mit Papier und Bleistift. Dann wurden mannshohe Metallmodelle in der Werkstatt gefertigt, mit Lot und Metermaß die Position der Atome bestimmt und die resultierende Röntgenbeugung berechnet.“ So lange, bis endlich die Struktur mit dem Ergebnis der Röntgenuntersuchung übereinstimmte. So ein Bau von Strukturmodellen sei bis heute ein unverzichtbarer Teil der Chemie, erklärt Sauer, nur dass die Computer diese Aufgabe übernommen haben.

Die theoretischen Chemiker wollen Strukturen vorhersagen

Ein wenig mehr hat sich schon verändert. Die theoretische Chemie wächst, sie stellt sich einem höheren Anspruch, weil Forscher wie Joachim Sauer die Methoden verbessert haben. „Von größtem Nutzen ist die Quantenchemie dort, wo die uns interessierenden Moleküle zu kurzlebig, instabil oder gefährlich für Experimente sind – oder erst in den Köpfen von Chemikern und Pharmazeuten existieren“, schrieb Sauer einmal. Mittlerweile klingt es noch ein bisschen selbstbewusster. Es gehe nicht mehr nur darum, ein Strukturmodell zu bauen, sondern direkte Strukturvorhersagen zu treffen und diese im Experiment zu bestätigen. Die theoretische Chemie könnte also bald die Erfahrung aus dem Labor überholen. Ungewöhnlich aus dem Mund eines Chemikers wählt Sauer gern den Begriff der Evolution, die ein paar Schritte weiter gehe als das intelligente Design. Man muss sich das so vorstellen, dass chemisches Wissen oder vielleicht gar der menschliche Geist an eine Grenze stoßen, wo Computerprogramme mit einem quasi selbst lernenden genetischen Algorithmus noch neue, stabile Strukturen finden. Sauer und andere haben so etwas berechnet und für Sonderfälle eine kleine Revolution der Chemie entdeckt, die damit aufräumt, dass gleiche Atome in einer Verbindung eine gleiche Umgebung bevorzugen.

„Fällt die Gesetzeskraft des Kollektivs weg, kann die Ungleichheit der Individuen die Stabilität eines kleinen Kollektivs erhöhen“, fasst Sauer diese Erkenntnis zusammen. Hier merken die Zuhörer seiner Vorträge auf, die in dem Chemiker doch vor allem Angela Merkels Ehemann sehen – und endlich eine politische Aussage gefunden haben. Dabei haben Aluminiumoxid-Cluster in der Gasphase nichts mit einer real existierenden Gesellschaft zu tun.

Sauer ist kein unpolitischer Mensch

Für viele ist Joachim Sauer ein Wissenschaftler, der nur Augen für die Forschung habe und deshalb an der Seite seiner Frau, der Kanzlerin, die Öffentlichkeit meide, sich nicht wohlfühle. Es ist völlig falsch, Sauer als unpolitischen Menschen zu bezeichnen. Er traf jeden Tag für sich selbst eine respektable politische Entscheidung, denn er gehörte in der DDR zu der Minderheit der international wahrgenommenen Wissenschaftler, die nicht in der SED waren und sich gegenüber dem Regime behaupteten. „Die Kunst war es, morgens noch in den Spiegel schauen zu können“, sagt Sauer über diese Zeit heute. Nach dem Mauerfall hat er in mehreren Interviews deutlich gemacht, dass Wissenschaft in der DDR mehr gehindert als gefördert wurde.

Sauer hat, nachdem er fast 20 Jahren unter diesen Umständen arbeiten musste, erstaunliche Kreativität entwickelt. Sein jüngstes Projekt ist praxisnah: die Berechnung von Strukturen von Wasser und Wasserstoffionen an Oberflächen. Seit 2007 koordiniert er einen Exzellenzcluster mit 50 Forschergruppen, der sich der Erforschung und Entwicklung von Katalysatoren verschrieben hat. Und er überzieht diverse Trägermaterialien mit dünnen Schichten, untersucht deren Eigenschaften und liefert Strukturmodelle. Diese Arbeiten haben schließlich zur Entdeckung eines metallgestützten, glasartigen ultradünnen Silikatfilms geführt, der gern als das dünnste Glas der Welt beschrieben wird. Auch sein Lieblingskind, die Zeolithe, konnte er in dieser besonderen Struktur herstellen.

Forschen jenseits der Grenze von 65 Jahren

Altersgrenze
Joachim Sauer, am 19. April 1949 geboren, wird auch über die Altersgrenze von 65 Jahren hinaus mindestens bis 2017 an der Humboldt-Univeristät Berlin bleiben. Seine Professur wird erst 2015 neu besetzt, danach finanziert der Exzellenzcluster UNIKAT Sauers Stelle.

Senior-Professur
„Auch für die Zeit nach 2017 hat die Humboldt-Universität mit der Senior-Professur eine Möglichkeit geschaffen, weiter aktiv zu sein“, berichtet Sauer, der länger arbeiten möchte, weil er gesund sei, seinen Beruf gerne ausübe und noch einige offene Fragen beantworten möchte. „Ich halte es für richtig und notwendig, die Lebensarbeitszeit der immer weiter ansteigenden Lebenserwartung anzupassen“, sagt er. Er plädiert für flexible Regelungen im Einvernehmen mit allen Beteiligten, da Neues in der Wissenschaft auch immer durch neue Personen befördert werde und Jüngere auch Chancen bräuchten.

Zukunft
Gerne würde Sauer noch eine Gastprofessur in den USA wie im letzten Herbst in Berkeley antreten. Damals konnte er wegen seiner Aufgaben in Berlin nur sechs Wochen in den USA arbeiten.