Seit Wochen kursieren Verschwörungstheorien über den Tod eines türkischen Studenten aus Erlangen in türkischen Gemeinden. Vertuschung in der deutschen Justiz wird vermutet. Was ist mit Mert Cokluk in der Nacht des 5. Oktobers wirklich passiert?

Baden-Württemberg: Erdem Gökalp (erg)

Erlangen - Nüchtern berichtet Bekir Cokluk von dem Tod seines Sohnes. Es sind die Worte eines Mannes, der sichtlich Distanz zu den Vorfällen gewonnen hat, die sein Leben vor wenigen Tagen auf den Kopf gestellt haben. Er habe auf dem Feld gearbeitet, als er einen Anruf bekam vom Gemeindevorsteher seines Bezirks in Bursa, einer Stadt im Nordwesten der Türkei. „Hast du einen Sohn, der in Deutschland studiert?“, habe der Vorsteher gefragt. Ja, hatte er.

 

Am 5. Oktober wurde sein Sohn, der 24-jährige Student Mert Cokluk, in den frühen Morgenstunden am Bahnhof in Erlangen von einer Bahn erfasst. Er starb an den Folgen seiner Verletzungen. Sechs Tage später erfuhr sein Vater 2000 Kilometer entfernt in der Türkei davon. Laut eines Sprechers der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth spricht alles für einen Suizid. „Nach unseren Erkenntnissen gab es kein Fremdverschulden“, sagt er unserer Zeitung.

Berichte über Suizid

Der Pressekodex gibt eine klare Anweisung, wenn es um die Berichterstattung von Selbsttötungen geht: Er mahnt deutlich zur Zurückhaltung. In den meisten Fällen wird gar nicht über Selbstmorde berichtet, um Nachahmungen unter den Lesern zu vermeiden. Im Polizeibericht der Deutschen Presseagentur vom 5. Oktober steht daher nur, dass der Bahnhof in Erlangen an dem Samstagmorgen, an dem Mert starb, für mehrere Stunden gesperrt wurde. Es ist die Rede von einem Notarzteinsatz am Bahnhof, nicht jedoch davon, was den Einsatz veranlasst hat. Dieser Umstand ist deswegen wichtig, weil die fehlende Berichterstattung über Merts Tod später von vielen Menschen in der türkischen Gemeinde als Vertuschung ausgelegt wird.

Dass der Suizid nun doch in diesem Bericht erwähnt wird, liegt auch an den Worten des Vaters von Mert Cokluk, die er an die Nachrichtenagenturen der „Anadolu Ajansi“ und „DHA“ nach dem Tod seines Sohnes richtete. In dem Videobeitrag, in dem er auch vom Eintreffen der Nachricht über den Tod seines Sohnes erzählt, stellt er Vermutungen an. „Wir haben große Zweifel, an den Umständen seines Todes“, sagt er. Zweifel, die viele Türken mit ihm teilen.

Folterspuren am Körper?

Spuren auf Merts Körper sprechen dafür, dass er gefoltert wurde, behauptet er. Dass die schweren Verletzungen die natürliche Folge des Suizids sind, bezieht Cokluk nicht in Betracht. Außerdem sei ihm, dem Vater, am Telefon von Mitarbeitern des türkischen Konsulates von einer Autopsie abgeraten worden. Diese Aussage spricht dafür, dass die Situation am Unfallort für die Behörden eindeutig war – bei Bekir Cokluk weckt sie dagegen weiteres Misstrauen. Auch dass die Angehörigen erst nach sechs Tagen informiert wurden, irritiert ihn. Tatsächlich könnte sich der Prozess verzögert haben, da die deutschen Behörden die Angehörigen nicht selbst ausfindig machen konnten und sich zunächst das türkische Konsulat in Nürnberg zu Hilfe holen mussten. Ein Mitarbeiter überbrachte die Nachricht dann dem Vater.

Zudem wird ebenfalls im Internet die Nachricht gestreut, dass es in derselben Nacht einen Brand gegeben haben soll, am Bahnhof in Erlangen. Darüber gibt es auf deutscher Seite keine Informationen. Doch auch hier erkennt der Vater einen Zusammenhang mit dem Tod seines Sohnes. Die Frage, die er indirekt stellt und die danach sowohl türkische Medien, Politiker als auch türkische Gemeinden in Deutschland beschäftigt: Ist Mert Cokluk ermordet worden? Nach einigen Nachforschungen zeigt sich: Außer der Aussage des sichtlich mitgenommen Vaters spricht nichts dafür.

Thema in der Nationalversammlung in der Türkei

Dennoch trifft die Vermutung des trauernden Vaters Bekir Cokluk einen Nerv in der türkischen Gemeinde, sowohl in der Türkei als auch in Deutschland. Sie wurde am 18. Oktober sogar in der sogenannten großen türkischen Nationalversammlung in der Hauptstadt Ankara von einem sozialdemokratischen CHP-Abgeordneten thematisiert. Der Politiker greift praktisch alle Vermutungen des Vaters auf. Auch den angeblichen Brand am Bahnhof in Erlangen, den es nie gegeben hat.

Währendessen stürzen sich auch türkische Medien auf die Aussagen des Vaters: „Wurde Mert wegen seiner Masterarbeit getötet?“, schreibt die Zeitung Hürriyet auf ihrer Online-Plattform. „,Mein Sohn Mert wurde getötet’“, schreibt die Zeitung Sabah. „Zweifelhafter Tod“, schreibt das Nachrichtenportal Birgün. Die Nachrichten schlagen nicht nur in der Türkei Wellen. Auch in Deutschland.

Heftige Reaktionen auf sozialen Netzwerken

Insbesondere Türken, die in Deutschland leben, fürchten um ihre Sicherheit und misstrauen der deutschen Justiz. Auf den Kommentaren in sozialen Netzwerken wie Twitter und Facebook werden Fragen an die Polizei gestellt. „Wen oder was wollen sie damit decken/vertuschen?“, schreibt ein Nutzer auf Twitter. „Wir als türkische Community haben allen Grund, am offiziellen Statement der Polizei zum Fall Mert Cokluk zu zweifeln“, schreibt ein anderer. „Wurde Mert Cokluk gefoltert und ermordet?“, heißt es von einem Nutzer auf Facebook. Aussagen einer Gemeinde in Schockstarre.

Der Bundesvorsitzende der türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu, sieht keine alleinige Schuld bei den türkischen Medien, die über den Tod von Merts Cokluk berichten. „Unter den Türken herrscht ein berechtigtes Misstrauen gegenüber der deutschen Justiz“, sagt er im Gespräch mit unserer Zeitung. Das gehe insbesondere auf die rassistisch motivierten NSU-Morde zurück, die seiner Meinung nach nicht sauber aufgearbeitet wurden und daher nachhaltig Skepsis bei türkischstämmigen Bürgern in Deutschland ausgelöst haben.

Nächstes Semester sollte Mert seine Doktorarbeit in einer Universität in Holland anfangen. Davor wollte er die Familie in der Türkei noch einmal besuchen, sagt der Vater. Warum es nie dazu kommen wird, wird außer Mert Cokluk selbst wohl niemand beantworten können.

Sie haben suizidale Gedanken? Hilfe bietet die Telefonseelsorge. Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr unter 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222 und unter https://ts-im-internet.de/ erreichbar. Eine Liste mit Hilfsangeboten findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention: https://www.suizidprophylaxe.de/