Mesner am Konstanzer Münster Gottes Hausmeister
Manuel Kunemann schließt das Konstanzer Münster morgens auf und abends zu. Er schaut nach den Kerzen, kleidet den Priester ein, tröstet Ministranten und bereitet die Messe vor.
Manuel Kunemann schließt das Konstanzer Münster morgens auf und abends zu. Er schaut nach den Kerzen, kleidet den Priester ein, tröstet Ministranten und bereitet die Messe vor.
Die frühe Stunde genießt er am meisten. Dann schließt Manuel Kunemann die drei mächtigen Türen des Konstanzer Münsters Unserer Lieben Frau auf, das ist gegen acht Uhr. Das Schloss gibt nach, die dicke Tür bewegt sich, er packt den dicken Schlüsselbund weg und betritt das Münster.
Als Mesner ist er der Erste, der die Kathedrale des untergegangenen Bistums aufsperrt. Einige Minuten steht er alleine in dem Bau. Die Säulen tragen ihre Last seit gut 1000 Jahren. Drei Portale sperrt er morgens auf: eines im Süden, im Norden und im Westen. „Es ist mucksmäuschenstill“, erzählt er. So still, dass er seine Schritte in dem riesigen Raumwürfel hört. Touristen und Stadtführer kommen erst viel später. Die stillen Minuten in der Frühe haben nichts von ihrem Reiz verloren, auch wenn Kunemann das Gotteshaus jeden Tag öffnet und abends schließt. Für den hauptberuflichen Mesner ist das eine von vielen Aufgaben.
Dieser Job dürfte eines der vielfältigsten Berufsbilder darstellen, die eine große Kirche bieten kann. Der Mesner schließt auf, schließt zu, organisiert die Reinigung, schaut nach den Kerzen, kleidet den Priester ein, tröstet Ministranten, bereitet die Messe vor. Der 40-Jährige benötigte dafür keine Ausbildung. Ein viertägiger Kurs in Baden-Baden machte ihn mit den Feinheiten vertraut. Der Rest ist Praxis, Fingerspitzengefühl, handwerkliches Geschick und ein natürlicher Bezug zur katholischen Kirche. Mesner und Mesnerinnen sind meist Quereinsteiger. Auch Kunemann kommt von außen, er lernte Erzieher und arbeitete im Kindergarten – bis er gefragt wurde.
Die Antwort fiel ihm nicht schwer. Der stämmige Mann ist mit seiner Kirche aufgewachsen. Erstkommunikant, dann Ministrant, Oberministrant, Lektor – das volle Programm. Lange bevor er die Sakristei übernahm, war er mit dieser Welt vertraut. Ein gelernter Katholik sozusagen. Wie man Weihrauch behandelt, der ein Kirchenschiff in einer orientalischen Duftwolke segeln lässt, wusste er schon zuvor.
Am frühen Vormittag füllt sich das Münster. Es ist in jedem Reiseführer vermerkt und zudem leicht erreichbar. Auf einem flachen Hügel gelegen, bildet es die natürliche Mitte der Altstadt von Konstanz. Mit einem Auge schaut Kunemann immer auf die Besucher, die die Kirche betreten. Einige suchen eine stille Ecke. Die meisten irren heiter und ziellos durch die Seitenschiffe.
Für das sakrale Jahrtausendrätsel, in dem sie stehen, haben sie nur wenige Minuten Zeit. Oder sie betrachten die grauen Steinplatten im Boden, die auf Latein von der wahren Größe des Toten berichten. Ein unscheinbares Gerüst zieht fast jeden Betrachter an: Sechs Kerzenständer stehen in der Kirchenhalle. Im Sommer werden bis zu 1000 Kerzen in den Metallständer gesteckt und angezündet. Im Herbst ist schon Nachsaison, da zählt der Mesner noch 600 Kerzenstümpfe. Erst vorhin erhielt er Nachschub. Der Lieferant brachte ihm 25 000 Stück. Die schweren Pakete verstaut er in den unzähligen Fächern der alten Schränke, die sich im Laufe der Jahrhunderte angesammelt haben.
Überhaupt, diese uralten Schränke. Einige von ihnen haben die Maße eines Carports. Dutzende von Messgewändern bewahrt der Mesner in den hölzernen Laden auf. Manches wird nicht mehr benutzt, etwa die steifen „Bassgeigen“, liturgische Gewänder der Alten Messe im tridentinischen Ritus. Ziemlich pfiffig ist ein schwerer Bodenseeschrank in der Oberen Sakristei belegt: Öffnet man die beiden Verschläge, findet man zwei moderne WC mit Waschbecken vor. Kunemann zeigt das wuchtige Möbel gerne und freut sich über erstaunte Gesichter. Dabei steht die Nützlichkeit der Konstruktion außer Frage.
An Hochfesten wie Weihnachten oder dem Konradifest im November sind die beiden stattlichen Sakristeien belegt wie Klassenzimmer am Tag der Einschulung. Die Jungen und Mädchen schlüpfen in die Ministrantenkleider. Der Mesner ordnet als Zeremonienmeister, er sucht die richtigen Größen für die Messdiener heraus. Die Aufregung der Kinder und der großzügig aufgelegte Weihrauch lassen manchen Helfer in die Knie gehen. „Wenn ein Ministrant umfällt, bringen wir ihn in die Sakristei“, sagt Manuel Kunemann. Meistens ist es nichts Ernstes, so die Erfahrung. „Beine hoch und Traubenzucker, dann wird es wieder.“
Die Messe bedeutet für ihn eine Zeit der Hochkonzentration. Als er die Arbeit am Münster aufnahm, war er noch aufgeregt, dass auch alles klappt. Inzwischen hat die Routine die Oberhand gewonnen, er verfolgt das Geschehen zwischen Altar und Kirchenbänken von der Sakristei aus. Von dort kann er auch auf die Monitore schauen, die den Bereich um den Altar ausspähen. Was er darauf sieht, überrascht ihn immer wieder aufs Neue – und das nach vielen Jahren, in denen er sich um die alte Basilika kümmert.
Er beobachtet, dass vermehrt Leute auftauchen, denen die Würde des Raumes gleichgültig ist, die nicht genau wissen, wo sie eigentlich sind und worin der Unterschied zwischen einer Kirmes und Kathedrale liegt. Bei einigen ist es touristische Unbedarftheit, bei anderen schiere Absicht. Nach einer aktuellen Einschätzung der Deutschen Bischöfe hat der vorsätzliche Vandalismus zugenommen. Manuel Kunemann registriert auch, dass die mittelalterliche Halle häufiger verschmutzt wird, wobei Brezeltüten noch das Harmloseste sind. Dann greift er ein, schickt die Leute raus und erklärt ihnen, wo sie in der großen Innenstadt besser aufgehoben sind.
Und noch ein Menschentyp sucht diese Kirche auf: „Das Münster zieht Sonderlinge und Idioten geradezu an“, stellt der Mesner fest. Mancher setzt sich murmelnd und für Stunden in eine Bank. Oder sie überschütten andere Besucher mit abwegigen Theorien. In anderen Ländern behelfen sich die Kirchengemeinden mit einem schlichten Trick: Sie verlangen Eintritt. Dann betreten automatisch weniger Menschen das Gotteshaus, Kunstfreundinnen und Zahlungskräftige wären unter sich. Kunemann lehnt das ab, „es wäre ein Fass ohne Boden“, wie er meint. Eine Kirche sei für alle da. Es genügt, wenn der Aufstieg in den Turm bezahlt wird. Für das Münster lehnt er ein Ticket ab.
Ohne Pardon verfährt er mit Zeitgenossen, die ihren geliebten Hund wie selbstverständlich ins Gewölbe ziehen. Öfters entspinnt sich eine Diskussion, etwa wenn der Halter sagt: „Mein Hund ist auch ein Geschöpf Gottes.“ Als gelernter Erzieher hört Manuel Kunemann sich das ruhig an und schickt das Gespann dann doch vor die Tür.
Auch diese originellen Begebenheiten gehören zum Amt eines Mesners. In evangelischen Gegenden heißt er Küster, die Schweizer nennen ihn Sigrist. Immer ist jener Mensch gemeint, der nach dem Rechten schaut, der beleuchtet, für frische Blumen und für den jahreszeitlich wechselnden Schmuck sorgt. Am Erntedank-Sonntag steht ein praller Korb vor dem Altar, gefüllt mit Gemüse. Im Dezember zieht ein Adventskranz mit dem Durchmesser eines Lkw-Reifens die Blicke auf sich. In den Tagen vor Weihnachten häuft sich die Arbeit. Manuel zählt sechs Christbäume, die das Kirchenschiff zur Grünzone machen.
Er genießt die Selbstständigkeit, mit der er sein Tagwerk verrichten kann. Die Woche über ist es eine einsame Arbeit. Kerzen, Krippenfiguren, Schlüsseldienste – alles zu seiner Zeit. Nur der Gottesdienst ist fix. Mit dem Gongschlag des Geläutes beginnt er. Dann ist auch der Mesner ein Rädchen in einem großen Ganzen, der Mann im Hintergrund, der weiß, wo der Messwein (ein Chardonnay der Konstanzer Spitalkellerei) steht.
Sein Amt hat viel mit der Zeit und deren Einteilung zu tun. Deshalb nennt er auch das Buch Kohelet („Prediger“) aus dem Alten Testament als sein Lieblingsbuch. Kohelet denkt ein ganzes Kapitel lang über das richtige Timing nach. Manuel Kunemann zitiert die Stelle, sie lautet: „Es gibt eine Zeit zum Steinewerfen und eine Zeit zum Steinesammeln, eine Zeit zum Umarmen und eine Zeit, die Umarmung zu lösen.“
Mit der Zeit und ihrer strukturierenden Aufgabe hat eine weitere Aufgabe des Mesners zu tun: Er ist auch für das funktionierende Läuten zuständig. Eine stumme Kirche ist eine tote Kirche. In Konstanz geht die Türmermusik nicht so schnell aus: 16 Glocken hängen im Südturm, deren größte Maria gewidmet ist. Drei weitere Glocken halten im Vierungsturm dagegen. Die 19 Klangbecher bilden das größte Glockengeläut in Baden-Württemberg. Es wird heutzutage über einen elektrischen Schaltkasten bedient. Als vor einigen Wochen eine italienische Delegation in den Dachstuhl stieg und das tönende Werk besichtigte, war natürlich auch Manuel Kunemann um die Wege.
Wird das Ungewöhnliche zum Alltag, dann ist es nicht mehr ungewöhnlich. Das gilt auch für Manuel Kunemann. Die ehemalige Bischofskirche ist der Ort, an dem er seine Brötchen verdient. Und doch ist dieser Arbeitsplatz ein Kosmos der eigenen Art mit zugemauerten Türen, kleinen Geheimnissen und eigenen Regeln. Wie die katholische Kirche überhaupt. „Für mich ist das eine besondere Aufgabe“, sagt er ohne langes Überlegen. Das Kümmern um den ehrwürdigen Ort bedeutet ihm eine Ehre. Sein Lieblingsplatz ist die kleine Krypta, deren stollenartiges Gewölbe auf die Zeit der Karolinger zurückgeht. Die Mauern dieser Unterkirche sind so dick, dass sie jeden Schall schlucken. Kein Licht dringt herein, da die Krypta keine Fenster hat. Auf seinen Rundgängen schaut Manuel Kunemann gerne hinein und hinunter und staunt immer wieder aufs Neue über die unerschütterlichen Mauern.