Michael Blume ist seit knapp einem halben Jahr Antisemitismusbeauftragter des Landes. Der Religionswissenschaftler ist ein guter Zuhörer. Aber er hat auch viel zu sagen. „Antisemitismus ist eine Misstrauenserklärung an die gesamte Gesellschaft.“

Stuttgart - Ich habe keine Angst mehr“, sagt Michael Blume. Diskussionsveranstaltungen unter Polizeischutz können den 42-Jährigen nicht mehr schrecken. 2015 brachte er im Auftrag der baden-württembergischen Landesregierung als Leiter des Sonderkontingents Nordirak 1100 besonders schutzbedürftige Flüchtlinge, vor allem jesidische Frauen und Kinder, aus dem Nordirak in den Südwesten. Er lernte vergewaltigte, gefolterte, traumatisierte Menschen kennen, Jugendliche, die sich selbst angezündet hatten, weil sie mit der Erinnerung an ihre Schändungen nicht mehr leben wollten.

 

Ständig mussten er und seine Kollegen im Irak die Hotels wechseln, die Fahrtrouten verändern, aus Angst vor Anschlägen. Ein paar rechte Schreihälse, die den Christdemokraten und die Grünen-Chefin Annalena Baerbock an jenem Abend bei einem Podiumsgespräch zum Thema Heimat nieder zu brüllen versuchen – sie können ihm keine Furcht einjagen; Baerbock und Blume, so ist hernach zu lesen, bleiben ruhig und kontern kühl.

Aber „ich habe auch gesehen, wie Extremismus eine Gesellschaft zerstören kann“, sagt der Filderstädter. Er hat im Irak erlebt, wie viel Hass Antisemitismus in einem Land sät, in dem noch nicht einmal Juden leben. Und das macht ihm, der im März noch der erste offizielle Antisemitismusbeauftragte einer Landesregierung in Deutschland gewesen ist, dann doch große Sorge: Denn die Saat des Hasses, die wird auch im deutschen Südwesten ausgestreut. Blume will dazu beitragen, dass sie nicht aufgeht. „Antisemitismus greift nicht nur die 9000 Juden im Land an“, betont er. „Antisemitismus ist eine Misstrauenserklärung an die gesamte Gesellschaft.“

Übergriffe und Verschwörungstheorien nehmen zu

Das eine sind die aktenkundigen antisemitischen Übergriffe: Die Hakenkreuzschmierereien, das Skandieren antijüdischer Parolen, die Attacken gegen jüdische Gebetshäuser wie die Vorfälle im vorigen Sommer, als die Fassade der Ulmer Synagoge gleich zwei Mal beschädigt wurde. „Das macht etwas mit dem Sicherheitsgefühl innerhalb der jüdischen Gemeinde“, sagt Blume: Jüdische Schüler trauten sich mittlerweile häufig nicht mehr, jüdischen Religionsunterricht zu besuchen aus Angst vor den Reaktionen.

Bundesweit ist die Zahl der antisemitischen Straftaten im ersten Halbjahr gegenüber 2017 von 362 auf 401 gestiegen, das ist eine Zunahme von mehr als zehn Prozent. Im Südwesten blieb die Zahl mit 48 etwa stabil. Aktuellen Zahlen der Bundesregierung zufolge liegt Baden-Württemberg im langjährigen Bundesvergleich seit 2010 auf dem vorletzten Platz, was die Zahl antisemitischer Straftaten anbelangt. Nur in Rheinland-Pfalz waren weniger solcher Delikte verzeichnet worden, die meisten gab es in Berlin, Thüringen und Brandenburg. Das andere sind die Anhänger der vielen Verschwörungstheorien, die die Juden für das Übel der Welt verantwortlich machen und sich via Internet rasant verbreiten. Die Zahl dieser Verschwörungsgläubigen, wie der Religionswissenschaftler Blume sie nennt, ist in den vergangenen Jahren gewachsen, davon ist er überzeugt.

Diese Menschen halten jeden Lehrer, jeden Polizisten, jeden Rathausmitarbeiter, jeden Politiker für einen Teil eines gigantischen Plans. Das Dilemma: „Die Betroffenen nehmen sich selbst nicht als Betroffene wahr“, sagt Blume. Genau das möchte der 42-Jährige gerne ändern.

Die Banklehre schloss er ab, dann studierte er Religionswissenschaft

Michael Blume ist Brückenbauer quasi von Haus aus. „Ich bin als Wossi aufgewachsen“, sagt er. Seine Eltern hatten versucht aus der DDR zu fliehen und waren erwischt worden. Der Vater landete in Stasihaft, 1975 wurden die Blumes von der Bundesrepublik freigekauft. Ihr Sohn Michael kam ein Jahr später in Filderstadt zur Welt – in einer anderen Welt als der, in der seine Eltern groß geworden waren.

„Ich war immer irgendwo dazwischen“, sagt er. Aus dieser Mittlerrolle „bin ich nicht mehr rausgekommen“. Mit 18 ließ er sich evangelisch taufen. Seine damalige Verlobte, heute seine Frau und Mutter der drei gemeinsamen Kinder, eine gläubige Muslima, trug die Kerze. Seine Banklehre nach dem Abitur schloss er zwar ab. Aber danach studierte er, was ihn schon immer fasziniert hatte: Religionswissenschaften. Noch immer arbeitet Blume wissenschaftlich, veröffentlicht Bücher, hält Vorträge und bloggt: An Energie fehlt es dem Mann, der im November vor lauter Terminen keinen einzigen Abend zuhause sein wird, jedenfalls nicht.

Dass er mit dem zersausten Haarschopf und dem jungenhaften Lächeln wirkt wie ein ewiger Konfirmand, mag ihm manche Tür öffnen. Unterschätzen sollte man Blume aber keinesfalls: Immerhin hat er, der 2003 als Referent im Staatsministerium angefangen hat, vier Ministerpräsidenten in der Villa Reitzenstein kommen und drei wieder gehen sehen – Erwin Teufel, Günther Oettinger, Stefan Mappus und Winfried Kretschmann.

Michael Blume fackelt nicht lange

Gleich zu Anfang wackelte sein Stuhl bedenklich. Für seine Magisterarbeit hatte er Muslime interviewt, darunter auch einen Islamisten. Ihm wurde unterstellt, er unterstütze als Berater der Landesregierung radikale islamistische Strömungen – fassen kann er das bis heute nicht.

Blume fackelt nicht lange. „Was nicht gleich erledigt wird, bleibt liegen“, sagt er. Den dunkelhäutigen Philipp Awounou und dessen weiße Freundin Regina Lahm, die für eine Krankenkasse auf einem Werbeplakat zu sehen waren und danach im Internet mit rassistischer Hetze überschüttet wurden, lud er zu sich ein. Blume besucht die Schulen, an denen es antisemitische Vorfälle gegeben hat. Seit April gibt es im Land eine Meldepflicht für antireligiöses Mobbing. Laut Kultusministerium sind seitdem vier Fälle gemeldet worden: Von der Schmiererei über Attacken gegen jüdische Lehrer und Beschimpfungen unter Schülern via WhatsApp bis hin zu einem unrühmlichen Auftritt einer Schülergruppe beim Besuch in einer tschechischen Gedenkstätte.

An diesem Morgen ist der Referatsleiter für „nichtchristliche Religionen, Werte, Minderheiten, Projekte Nordirak“ als Antisemitismusbeauftragter im Demokratiezentrum Baden-Württemberg zu Gast. Er will sich die Arbeit der Beratungsstelle Leuchtlinie vorstellen lassen, die sich um Betroffene rechter Gewalt kümmert. Er will sich einen Überblick verschaffen darüber, welche Projekte es gibt, die sich mit jedweder Form von Antisemitismus befassen. Denn der Landtag erwartet nächstes Jahr im Juli einen Bericht darüber, wie es um den Antisemitismus im Land bestellt ist, welche Strukturen zur Bekämpfung schon vorhanden sind und wie sie funktionieren. Es wird der erste Bericht dieser Art bundesweit sein. Die Leuchtlinie-Mitarbeiter aber haben Fragen. Vor allem eines treibt sie um: „Wir müssen die Hasskriminalität mehr in die Diskussion bringen“, sagt Werner Schulz von der Fachstelle.

Blume hört zu, gibt Tipps, notiert sich Termine, signalisiert Unterstützung für Ideen. Dann geht es weiter, zum nächsten Treffen – im Renault Zoe, den er sich nach seiner Irak-Mission angeschafft hat: „Wenn wir etwas für den Frieden tun wollen, müssen wir den Ölverbrauch reduzieren“, sagt er: Der Ölverkauf finanziere den Kriegsbetrieb im Nahen Osten. Und womöglich müssen wir: reden, reden, reden.