Einst hat er für Tim Burton Batman gespielt, dann kamen raue Zeiten. Nun trumpft Michael Keaton wieder auf: im heißen Oscar-Kandidaten „Birdman“ spielt er famos einen alternden Mimen, der mal ein Hollywood-Superheld war.
stuttgart - New York, der Broadway. Das St. James Theatre in der 44. Straße, ein einziges Labyrinth! In atemlosem Tempo hasten wir durch die Flure, Büros und Garderoben auf die Seitenbühne mit den Seilzügen und dem Inspizientenpult, durch die Kulisse einer nostalgischen Wohnküche hindurch. In den Gängen wuseln Garderobieren, Techniker und Beleuchter umeinander. Alles atmet Hektik, Anspannung, Geschäftigkeit.
Doch der Schauspieler Riggan Thomson schwebt über allem. Und zwar physisch, aus eigener Kraft, einen halben Meter über dem Boden im Lotussitz, abseits des Trubels und all der Leute, die irgendetwas von ihm wollen. Da raunzt eine körperlose Stimme aus dem Nichts: „Wie sind wir hier nur gelandet, in diesem Drecksloch?“ und bringt Riggan schmerzlich die Dürftigkeit seines Refugiums sowie die schnöden Gesetze der Schwerkraft ins Bewusstsein. „Du bist ein Filmstar, schon vergessen?“
Mit dem Vogel im Kopf unterwegs
„Birdman“ heißt die Gestalt hinter jener misslaunigen Stimme. Seit zwanzig Jahren macht sie sich in Riggan Thomsons Leben breit, verleiht ihm einerseits scheinbar übermenschliche Kräfte, drangsaliert ihn andererseits und lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Riggan glaubt tatsächlich, jenes Vogelvieh in seinem Kopf befähige ihn, sich selbst und unbelebte Gegenstände zum Schweben zu bringen. Als einem nervend untalentierten Schauspieler während der Probe ein Scheinwerfer auf den Kopf knallt, hält Riggan das prompt für eine Manifestation seiner eigenen, ihm vom Birdman verliehenen Macht.
Ein Vogelmann bleibt kleben
Mit dem geheimnisvollen Vogelmann erlebte Riggan – genial besetzt mit dem einst als „Batman“ Erfolge feiernden Michael Keaton – die Höhen des Kinoruhms. Dreimal schlüpfte er in das Kostüm eines Superhelden namens Birdman, der einer Comicheft-Reihe für Teenager entsprungen war. Das Publikum greller Blockbuster-Streifen liebte ihn dafür. Nun ist Riggan alt, die Fans des Bunten und Lauten haben ihn vergessen. Jetzt will der fast Vergessene Kunst für Erwachsene und Gebildete machen, sich als ernster Regisseur und Darsteller neu erfinden. Doch der Vogelmann klebt an ihm und hat ganz andere Pläne.
Der Kulturbetrieb wird aufs Korn genommen
Manchmal muss man auf das schönste und wichtigste Kinoereignis eines Jahres lange warten. Manchmal kommt es früh. Alejandro González Iñarritus „Birdman“ setzt bereits Ende Januar den Maßstab für alles, was in den kommenden Monaten auf den Leinwänden zu sehen sein wird. Nicht umsonst heimste diese Tragikomödie, die in den USA schon im Oktober 2014 angelaufen ist, zahlreiche Nominierungen und Auszeichnungen in nicht ganz glanzlosen Wettbewerben ein, bei den Golden Globes etwa und den Filmfestspielen von Venedig.
Als Rädchen im Showgeschäft
Die Academy of Motion Picture Arts and Sciences nominierte das Werk gar in neun Kategorien für den Oscar, darunter „Beste Regie“, „Beste Kamera“ und „Bester Hauptdarsteller“. Die begeisterte Aufmerksamkeit des Fachpublikums wirkt allerdings wie ein ironischer Triumph Iñárritus, der in „Birdman oder Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit“, wie der volle Titel lautet, eben nicht nur vom Scheitern eines abgehalfterten Filmstars erzählt, sondern gleich die gesamte Unterhaltungs- und Kulturindustrie, einschließlich ihrer Kritiker, satirisch aufs Korn nimmt.
Aufrichtige Bilder des Showgeschäfts
Sämtliche Charaktere, denen wir im Film begegnen, sind Rädchen im Getriebe des Showgeschäfts. Obwohl diese Maschine sie verschlingt, halten sie sie am Laufen. Die Beziehungen im St. James Theatre sind kompliziert, ein einziges zähes Gerangel, wer vor und wer hinter den Kulissen die Hosen anbehalten darf und wer sie herunterlassen muss. Für sein Regiedebüt wagt sich der geschiedene, einsame Riggan – welch trauriger Witz – an die Bühnenadaption einiger Kurzgeschichten von Raymond Carver, an die Sammlung mit dem bezeichnenden Titel „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“.
Während der harten Proben verschwimmt die Grenze zwischen Spiel und Realität. Riggans Kollege Mike Shiner (Edward Norton) zum Beispiel bekommt im wahren Leben keine Erektion mehr hin. In seiner Bühnenrolle jedoch lässt er seine Kollegin Lesley (Naomi Watts) auf äußerst unangenehme Weise seine Potenz spüren. Und zwar vor Publikum.
Intime Winkel und viel Herzblut
Iñárritu zeigt, wie die Akteure im Mikrokosmos Theater um Anerkennung, sogar Liebe buhlen und dafür bereitwillig ihre Persönlichkeit opfern. Trotz seiner Kritik am Kulturbetrieb, der künstlerische Leistungen in strenge Kategorien der hohen und niederen Unterhaltung einteilt, ist „Birdman“ keinesfalls als verbiesterte Abrechnung für ein Elitepublikum gedacht, dem der Regisseur den Spiegel vorhalten möchte. „Birdman“ ist trotz aller Tiefe federleicht erzählt, trotz aller Tragik urkomisch in seinen grandios geschriebenen Dialogen und obendrein durch den unkonventionellen Einsatz filmischer Mittel atemberaubend schön anzusehen.
Die Kamera von Emmanuel Lubezki ist ständig in Bewegung, alles fließt. Selten wird die Bildfolge von sichtbaren Schnitten unterbrochen. So entsteht der Eindruck unmittelbarer Nähe zu den Figuren. Wir folgen ihnen auf Schritt und Tritt und erhalten praktisch unbegrenzt Zutritt in die intimsten Winkel.
Iñárritu ist ein wunderbarer, aufrichtiger Film gelungen, der uns vor Augen führt, wie viel Herzblut in der Kunst steckt, die wir häufig als verzichtbares Luxusgut betrachten. Für Riggan und die anderen geht es ums Überleben.
Birdman (oder die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit). USA 2014. Regie: Alejandro González Iñárritu. Mit Michael Keaton, Zach Galifianakis, Edward Norton, Emma Stone, Naomi Watts, Andrea Riseborough, Amy Ryan. 119 Minuten. Ab 12 Jahren.