Michael Köhlmeier lockt den Leser in eine rührselige Geschichte und lässt ihn hart erwachen. Sein Roman über ein heimatloses Mädchen brüskiert die fromme Illusion, mit Mitgefühl allein ließe sich die Ungerechtigkeit aus der Welt schaffen.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Ach, wie schmelzen wir dahin, wenn uns Kinderaugen aus dem Elend anblicken. Allerdings hübsch sollten sie schon sein. Viele derzeit entstehende Romane verarbeiten Themen, die ihnen von der prägenden Erfahrung unserer Zeit zugespielt werden: der Migration. Bei einigen wiegt die Bedeutung des Stoffs schwerer als die der literarischen Verarbeitung. Nur wenigen gelingt eine Synthese, die mehr wäre als Journalismus mit anderen Mitteln. Bei Michael Köhlmeiers schmalem Roman „Das Mädchen mit dem Fingerhut“ ist dies der Fall. Was er aufgreift, gleichsam von der Straße weg, könnte gegenwärtiger nicht sein: die Geschichte eines kleinen Mädchens, ausgesetzt in irgendeiner mitteleuropäischen Großstadt, ohne Eltern, der Sprache nicht mächtig, allein. Aber was er daraus macht, schillert in allen Farben der Literatur, wie ein Regenbogen, nur ohne die Hoffnung, die man gemeinhin mit dieser Himmelserscheinung verbindet.

 

Wer nun erwartet, literarische Verarbeitung könnte heißen, dass die harte Realität in ein rührseliges Irgendwas verwandelt werden würde, sieht sich getäuscht. Denn hier geht es gerade um die Fallstricke der Rührung, über die der Leser, der in diese Geschichte mit wohlig moralischer Anteilnahme gezogen wird, am Ende schmerzhaft stolpert. Raffiniert enthüllt Köhlmeier den Eigennutz in unseren schönsten Affekten und den subtilen Zusammenhang von Moral und Herrschaft.

Gute Taten allein sind nicht genug

Jenes junge Mädchen, dessen Weg der Erzähler in einem schlichten Ton begleitet, wie man ihn auch für eine Heiligenlegende wählen könnte, ist sechs Jahre alt und von einem Aussehen, das die Menschen für sie einnimmt. Ein kleiner Engel, den es in die Großstadt verschlagen hat aus einer anderen Welt, dem Himmel oder der Hölle, wer weiß. Der Inhaber eines Ladens füttert die Kleine eine Weile durch, bis sie sich in der Stadt verirrt. Sie gerät in ein Kinderheim, bricht von dort mit zwei Jungen aus, wird von der Polizei aufgegriffen, flieht, bis sich eine ältere reiche Dame ihrer erbarmt, ihr das Leben rettet – und bitter dafür bezahlen muss. Alle lieben das Mädchen, doch die wohltätige Zuwendung, die ihr zuteilwird, ist verbunden mit Akten des Besitzergreifens, des Zwangs, der Zähmung. Und wie trügerisch die Motive tätiger Nächstenliebe sind, zeigt das Schicksal der beiden Jungen, die Ähnliches erleiden, wofür sich aber niemand interessiert.

So eindringlich schlicht Köhlmeier diese Geschichte entwickelt, so vielfältig sind die Assoziationen und Anspielungen, die in dem schmalen Buch widerklingen: Motive von Dickens, Hans Christian Andersen – nicht nur der Titel erinnert an dessen „Mädchen mit den Schwefelhölzern“. Doch die Erwartungshaltung, die diese Bezüge wecken, wird auf charakteristische Weise gebrochen. Durch einzelne gute Taten kommt die Welt nicht mehr ins Lot. So grundsätzlich ist die Asymmetrie im Verhältnis des Mädchens zu seinen Mitmenschen, dass sie nicht mehr durch Empathie und Mitgefühl ausbalanciert werden kann. Einzig unter den Ausgestoßenen bildet sich eine Gemeinschaft und eine verbindende Sprache. Das Geschenk eines Fingerhutes besiegelt den Bund zwischen den Kindern.

Schutzpatronin der Ausgegrenzten

In seinem zwielichtigen Schelmenroman die „Abenteuer des Joel Spazierer“ hat Köhlmeier schon einmal eine zwischen Abgrund und Erwähltheit changierende Hauptfigur auf Reisen durch die Katastrophen der Geschichte geschickt, einen bezaubernden jungen Mann, einen Schlawiner, aber auch einen mehrfachen Mörder, Sträfling und Stricher. Das Mädchen mit dem Fingerhut ist sein Gegenstück. Sie ist der Liebling aller, sie tut allen leid. Und bleibt doch allen fern. In ihrer Entrücktheit ist sie die Schutzpatronin derer, die am Rande stehen, denen die Gesellschaft ihr Mitleid versagt, weil sie keine schönen großen Augen haben – künftige Diebe und Verbrecher. Sie behauptet ihren Anspruch zu leben gegen die Abhängigkeit, das Leben von anderen nur geschenkt zu bekommen.

Schonungslos brüskiert Köhlmeier mit dieser Legende aus dem harten Diesseits die fromme Illusion, mit Mitgefühl allein ließe sich die Ungerechtigkeit aus der Welt schaffen. Indem Mitleid die Aufhebung des Leids den Zufällen der Nächstenliebe überlässt, bestätigt es die Unabänderlichkeit der fatalen Zustände im Ganzen.