Michael Steinbrecher hat in Baden-Baden zum ersten Mal das „Nachtcafé“ moderiert. Der Nachfolger von Wieland Backes hält sich an die Regeln des SWR-Flaggschiffs und spricht mit seinen Gästen über Veränderungen in ihrem Leben.

Baden-Baden - Bahnt sich da eine Talk-Show-Revolution von oben an? Bevor die Kameras bei der Aufzeichnung von Michael Steinbrechers erstem „Nachtcafé“ im historischen E-Werk von Baden-Baden zu laufen beginnen, wendet sich der 49-jährige Moderator an sein per Verlosung gefundenes Studiopublikum: Falls er mal eine „blöde Frage“ stelle, sagt Steinbrecher, könne man als Zuschauer seinem Unmut ruhig verbal Ausdruck verleihen. Das passiere zwar eigentlich nie bei Talkshows, erklärt er, sei aber im Grunde doch wünschenswert. Weil, das Publikum, das sei ja ein „Teil der Sendung“.

 

Als Michael Steinbrecher später tatsächlich eine blöde Frage stellt, beschwert sich natürlich niemand aus dem Publikum: „Ist die Angst vorm Scheitern das, was viele Menschen von einem Neubeginn abhält?“ will Steinbrecher da wissen, und einer seiner sieben Gäste auf der cremefarbenen Couch antwortet gar nicht unschlau. Die Revolution aber – sie ist bei der Sendung, die am Freitagabend im SWR-Fernsehen ausgestrahlt wurde, ausgeblieben.

Vielleicht hat man sie auch nicht erwarten dürfen. Denn bevor die Kameras liefen, sagte Michael Steinbrecher zu seinem Studiopublikum auch etwas über fast drei Jahrzehnte „Nachtcafé“ mit Wieland Backes: „Natürlich wird das unerreichbar sein“, sagte Steinbrecher als Backes-Nachfolger. Aber er werde alles geben, „dass das ,Nachtcafé gut weitergeht“. Das „Nachtcafé“, das sei hier erwähnt, ist so etwas wie das „Wetten, dässle . .?“ des SWR, ein Flaggschiff des Senders, nur eben nicht tot, sondern lebendig, beim Neustart sogar besonders dynamisch, was man zum Beispiel an Steinbrechers kreativer Das-interessiert-mich-sehr-Mimik und seiner lautmalerischen Erstauntheits-Artikulation ablesen kann oder auch am Titel der Premierensendung: „Die Kunst des Neubeginns“ passt ja gut – neuer Job für Steinbrecher, neuer Moderator für das alte Flaggschiff, neues Studio und immer noch neues Jahr.

Der Moderator staunt begeistert

Und also fragt Michael Steinbrecher die österreichische Filmschauspielerin und mallorquinische Neugastronomin Sonja Kirchberger, die jüngst einen „runden Geburtstag“ (Steinbrecher), nämlich ihren fünfzigsten („Wikipedia“) gefeiert hat: „Was steht hinter dem Traum, ein Restaurant zu eröffnen?“ „Der Traum ist 25 Jahre alt“, antwortet Kirchberger. „Fünf!-und!-zwan-zig!!??“ wiederholt Steinbrecher so begeistert staunend, als habe ihm die Kirchberger gerade verraten, dass sie 2,10 Meter hoch springen könne (was ein Zentimeter höher wäre als der Weltrekord der Damen). Dann fasst er sich interessiert ans Kinn.

Michael Steinbrecher macht – vom mimisch-gestischen Übereifer zu Beginn abgesehen – seinen neuen Job sehr ordentlich: Er lässt seine rezepttreu zusammengeführten bekannten und unbekannten, diesmal überwiegend weiblichen Gäste sowie den hinzugezogenen Experten ausreden (auch wenn das mitunter dazu führt, dass die Bestsellerautorin Gaby Hauptmann ein wenig zu lange über ihren Ex herzieht). Er bemüht sich redlich, ein Gespräch der Gäste untereinander in Gang zu bringen („Können Sie damit was anfangen?“, fragt er dann gerne.) Er hält sich selbst in puncto Redezeit angenehm bescheiden zurück und schafft es dennoch, hübsche eigene Formulierungen („Planungsbüro des eigenen Lebenslaufes“) dezent zu platzieren. Er gibt sich nach einer Weile hinreichend natürlich und kann einmal sogar richtig über einen Witz lachen. Steinbrecher zeigt Interesse an seinen Gästen und ihren Geschichten und widersteht beherzt dem Trend zur Überintellektualisierung, wenn er mit der Verve eines Sportreporters unmittelbar nach dem Schlusspfiff von Susanne Gaschke, der Ende 2013 zurückgetretenen Oberbürgermeisterin von Kiel, wissen will: „Wie war das, als Sie ihre Sachen aus dem Büro herausgebracht haben?“

Human touch nennt man diese Art von Journalismus. Den Wert von Steinbrechers grundsätzlich antizynischer Haltung und Herangehensweise kann gar nicht hoch genug einschätzen.

Das alte Flaggschiff hat weiterhin Potenzial

Umso mehr verblüfft und – ja, doch – enttäuscht dann auch, dass bei der Verdichtung der überwiegend supererfolgreichen und sehr gut gelaunten Neustarter (Hoteldirektor, dreißig mal umgezogen) in Steinbrechers Studio bisweilen der Eindruck vermittelt wird, der menschliche Neustart sei eine unkomplizierte Variante des Sockenkaufs. Nach Gaby Hauptmanns selbstbewussten Einlassungen zur beständigen Häutung konstatiert er nämlich: „Es gibt viele Menschen, die haben diesen Mut nicht.“ Dass es aber selten fehlender Mut ist, der Menschen in schlecht bezahlten harten Jobs gefangen hält, sondern meistens die ökonomische Notwendigkeit, lässt der Besserverdiener Steinbrecher bei seiner „Nachtcafé“-Premiere leider außer acht. Den ehemaligen Rechtsanwalt Oliver Rothe, der einen Neustart als katholischer Priester wagte, lässt er dafür am etwas gedrängten Ende der Sendung leider zu kurz zu Wort kommen.

Dennoch: das alte SWR-Flaggschiff „Nachtcafé“ hat mit dem neuen Kapitän Michael Steinbrecher weiterhin Potenzial: „Wo gibt’s das sonst? Neunzig Minuten, ein Thema!“, sagte der Moderator der Stuttgarter Zeitung. „Ich hoffe, dass sich das Interesse der Gesprächspartner untereinander vermittelt hat“, sagte er auch.

Es hat sich nicht in jedem Augenblick vermittelt. Aber immer mal wieder. Und das ist eigentlich schon eine ganze Menge.