Herr Professor Wolffsohn, wie sehen Sie den russischen Angriff auf die Ukraine, beruflich und persönlich?
Das ist ein unentschuldbarer Krieg, die reine Aggression. Es böten sich aus russischer und ukrainischer Sicht diverse Kompromisse an. Ich habe vor einiger Zeit in meinem Buch „Zum Weltfrieden“ schon eine Föderalisierung der Ukraine, langfristig aber auch von Russland vorgeschlagen. Das würde innen- wie zwischenstaatliche Probleme lösen.
Wie sehen Sie die deutsche Politik mit Blick auf diesen Krieg?
Die deutsche Politik und die Mehrheit der deutschen Öffentlichkeit halten die Bekundung von Solidarität offenbar für praktizierte Solidarität. An Letzterer fehlt es. Zunächst müssten mehr und bessere Waffen zur Selbstverteidigung geliefert werden. Die deutsche Ukraine-Politik, die stets der deutschen Russland-Politik untergeordnet wurde, ist ein einziges Desaster. Daran tragen vor allem vier Politiker Schuld: Gerhard Schröder, Angela Merkel, der frühere Außenminister Frank-Walter Steinmeier und auch der ehemalige Vize-Kanzler Olaf Scholz. Allein der jetzige Bundespräsident räumte seinen Fehler weltöffentlich ein. Hut ab. Der Kanzler leistet Teil-Wiedergutmachung durch Halb-Taten. Völlig indiskutabel: Merkel und Schröder.
Laviert Israel, wenn es sich nicht an Sanktionen gegen Russland beteiligt und auch keine Waffen liefert?
Israel vermittelt sehr aktiv hinter den Kulissen, aber Israel sieht sich auch mit einer existenziellen Bedrohung durch Russland konfrontiert. Diese Bedrohung fesselt Israel. Russland ist ein entscheidender Akteur in Syrien, deckt die iranische Expansion in Syrien, im Libanon und im Irak. Israel verhält sich nicht einseitig pro Ukraine, sein Balanceakt ist bisher aber erfolgreich.
Was bedeutet es für Sie, wenn in dem Krieg der 96-jährige KZ-Überlebende Boris Romantschenko getötet wird und Zehntausende weitere KZ-Überlebende um ihr Leben bangen?
Das ist eine Tragödie, aber ich würde nicht wagen, zwischen den unterschiedlichen individuellen Tragödien zu gewichten. Das Vergleichen und Abwägen ist zwar symbolisch interessant, aber bezogen auf das Sterben irrelevant.
In Ihrem neuen Buch – „Eine andere Jüdische Weltgeschichte“ – beschreiben Sie die jüdische Geschichte als eine Abfolge von Katastrophen und Wiederauferstehung. Zählt da der Ukraine-Krieg auch dazu?
Im Innersten war ich so programmiert, dass das ständige Verfolgtsein der Juden in ihrer Geschichte nur ein Teil zu sein schien, weil erfreulicherweise der Überlebenswille der jüdischen Gemeinschaft so stark war. Doch das intensive Beschäftigen mit nationalen und globalen Verfolgungen von Juden, diese Dauerkatastrophen, hat mich geradezu überwältigt. Deshalb muss man die jüdische Gemeinschaft als eine tief verletzte, verängstigte verstehen und auch das heutige Verhalten des jüdischen Staates und der diasporajüdischen Mehrheit, die zumindest bis zum Ukraine-Krieg mit Blick auf die Rechtmäßigkeit von Gewalt als Mittel der Politik ganz anders programmiert ist, als es die westliche und vor allem deutsche Öffentlichkeit bisher war.
Der Ukraine-Krieg als Einschnitt?
Vielleicht ist der Ukraine-Krieg psychologisch für Deutschland ein Wendepunkt, der auch mehr Verständnis für die aus der Geschichte ableitbare existenzielle Angst der Juden innerhalb und außerhalb Israels verstehbar macht. Ich habe die jüdische Geschichte unter das Motto „Existenz auf Widerruf“ gestellt.
Nach Ihrer Familiengeschichte schreiben Sie eine jüdische Globalgeschichte. Gibt es da eine Verbindung?
Ja, möglicherweise durch das Älterwerden. Ich nehme an, jedes selbstreflektierende Individuum versteht sich als Teil eines größeren Ganzen, zugleich auch in seiner eigenen Bedeutungslosigkeit. Und diese gemeinschaftlichen Rahmenbedingungen, seien sie herkunftsgruppenbezogen oder welthistorisch, kennenzulernen, ist ein Erkenntnisvorgang. Deshalb habe ich auch den Mut, das zu veröffentlichen, über das, was für mich bedeutsam ist, hinaus.
Wieder treten Sie als unbequemer Freidenker auf. Ist das die Rolle eines Intellektuellen in der Demokratie?
Das ist die richtige Rolle eines denkenden Menschen überhaupt. Das Abenteuer des Denkens ist doch im positiven Sinne ungeheuerlich grenzenlos. Das lässt sich auch trainieren.
Und wie sind Sie der geworden, der Sie sind? Sie sind ja kein blindwütiger Polarisierer, beleuchten aber gerne blinde Flecken?
Beim Polarisieren würde ich Ihnen freundschaftlich widersprechen. Denn das Benennen der Wirklichkeit mögen die wenigsten. Die Wirklichkeitsbeschreiber werden von ihren Zeitgenossen eher selten geschätzt und als Polarisierer wahrgenommen. Da ich mit mir selber im Reinen leben möchte und mich politisch oder intellektuell auch nicht als Mitläufer verstehe und sozusagen die mentale Staatsraison der Bundesrepublik Deutschland verinnerlicht habe, nicht zuletzt auch die deutsche Geistesgeschichte – Kant, der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit –, habe ich mich dazu gepeitscht. Aber das Peitschen war relativ leicht, weil ich durch meine Herkunft und Biografie immer mindestens zwei Seiten nicht nur rational, sondern auch emotional erlebt, gelebt, erkannt und daher auch benannt habe.
Als ihr langjähriger Chronist sehen Sie für die deutsch-jüdischen Beziehungen in Zukunft eher schwarz? Stichwort: „Geschichte als Falle“. Das klingt unabänderlich.
Unabänderlich ist nichts. Pessimistisch oder realistisch bin ich beim sich abzeichnenden Ende der jüdischen Diaspora, also eines aktiven jüdischen Lebens, weil Antisemitismus und negative Rahmenbedingungen für die jüdische Gemeinschaft geradezu unabänderlich scheinen – demografisch, politisch.
In Sachen Antisemitismus erwarten Sie aufgrund einer wachsenden Zahl nicht integrierter, extremistischer Muslime mehr Antijüdisches? Kann man da nicht gegensteuern?
Natürlich kann man. Ich sehe nur nicht, dass man es erfolgreich tut, vielleicht auch nicht will. Die wenigen Juden in Deutschland – in Gemeinden religiös engagiert etwas mehr als 100 000, praktisch circa 200 000 – haben kein Gewicht. Anders die große muslimische Minderheit, die traditionell und nicht nur durch den Nahostkonflikt auf Judenfeindschaft, bestenfalls Distanz zu Juden programmiert ist. Der Nahostkonflikt und die islamische Tradition sind und werden noch mehr ein Teil deutscher Innenpolitik. Wegen der existenziellen Gefahr für jüdisches Sein auch durch rechts- und linksextremistischen Antisemitismus erleben wir einen Exodus von Juden aus Frankreich und – aus anderen Gründen – aus der Ukraine und Russland und langfristig auch aus Deutschland.
Wenn Sie religiös orientierte jüdische Enkel hätten, würden Sie diesen empfehlen, in der Öffentlichkeit in Deutschland eine Kippa zu tragen?
Ich würde meinen Enkeln, wären sie jüdisch und gläubig, nicht empfehlen, öffentlich eine Kippa zu tragen. Aus drei Gründen. Erstens, weil es gefährlich geworden ist. Zweitens empfinde ich, egal ob jüdisch oder nicht, die Zurschaustellung der eigenen Überzeugungen grundsätzlich als aufdringlich. Das erinnert mich an Parteiabzeichen. Bei jedem, allen und allem ziehe ich Diskretion vor. Drittens kann man, sozusagen koscher, Mütze, Hut oder Kappe tragen.
Sie schreiben, Ihre deutsch-jüdische, deutsch-nichtjüdische und deutsch-teiljüdische Familie wird „wahrscheinlich, hoffentlich inhaltlich nie ,judenrein‘“. Sehen Sie so die Zukunft der Juden insgesamt?
Ja und nein. Das ist der positive Aspekt, der die glückliche Phase der Nichtverfolgung als Grundgedanken hat. Bei Verfolgung wird es wieder eine stärkere innerjüdische Selbstabschließung geben. Im friedlichen Nebeneinander aber haben wir das Paradies der offenen Gesellschaft, nach dem wir uns ungefähr 2000 Jahre lang gesehnt haben. Kann dann das jeweils Besondere neben dem vielen anderen Besonderen in seiner Besonderheit bestehen? Das ist eine offene Frage. Da bin ich aber teiloptimistisch.
Zur Person
Michael Wolffsohn
Der Historiker kommt 1947 in Tel Aviv als Sohn einer 1939 nach Palästina geflüchteten jüdischen Kaufmannsfamilie zur Welt. 1954 übersiedelte er mit seinen Eltern nach West-Berlin. Von 1967 bis 1970 leistet er seinen Wehrdienst in Israel. Nach dem Studium in Berlin, Tel Aviv und New York lehrt er von 1981 bis 2012 als Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München. Er meldet sich immer wieder zu Nahost und zur Geschichte und Gegenwart des Judentums zu Wort. Am 11. April erscheint sein Buch „Eine andere Jüdische Weltgeschichte“ im Herder-Verlag.