Michael Greifenstein ist eines von 17 000 amerikanischen Kindern, die vorübergehend in Deutschland leben, weil ihre Eltern in der US-Armee dienen. Wie sieht der Alltag des Zwölfjährigen aus?

Stuttgart - Es fühlt sich jedes Mal ein bisschen wie heimkehren an, wenn Michael Greifenstein am Morgen mit dem Bus die Schranke am Rande des Stuttgarter Stadtteils Vaihingen passiert. Denn dort, hinter einem hohen Zaun mit Stacheldraht, beginnt die Welt, die er kennt. Eine Kleinstadt, in der Englisch gesprochen wird, ein Supermarkt, der nur Dollar nimmt, eine Schule, vor der die US-Flagge weht.

 

Michael ist zwölf Jahre alt. Ein Junge mit kurzen blonden Haaren und Pausbacken. Kurz nach sieben Uhr ist er in einem kleinen Ort im Stuttgarter Speckgürtel in den Bus gestiegen. Sein Schulweg führt jeden Morgen vorbei an Sicherheitskräften. Sie bewachen die Schranke, als wäre sie die Grenze zwischen zwei Ländern. Ein wenig ist sie das auch: Sie trennt Stuttgart-Vaihingen vom Gelände der Patch Barracks, einem Truppenstützpunkt der US Army. Michaels Vater ist Major beim United States Africa Command. Seinetwegen ist die Familie im Sommer 2015 aus Georgia nach Deutschland gezogen.

Der Schulbus darf weiterfahren, vorbei an Wohnblöcken, in denen noch immer viele Soldaten leben. Auf dem Kasernengelände gibt es außerdem eine Tankstelle, Fast-Food-Läden und eine Post. Das Fahrzeug stoppt vor der Patch Middle School, einem lang gezogenen Bau, umgeben von Bäumen. „Wo ist deine Krawatte?“, will ein Mann mit Sakko und dunklen Brillengläsern von Michael wissen, kaum dass der ausgestiegen ist. Der Junge kramt in seinem Rucksack und befördert schließlich ein Exemplar in Weinrot hervor. Er trägt einen Kapuzenpullover, Jeans und Turnschuhe. Schuluniformen gibt es nicht. Doch der Mann vor ihm, Rektor Rick Renninger, ist heute in besonderer Mission unterwegs. Er hat diesen Donnerstag zum „Crazy Tie Day“ erklärt, zum Verrückten-Krawatten-Tag. Ein wenig Auflockerung schade nie, sagt Renninger und gibt Michael High Five.

„Anfangs war es ein Schock“

Michael, ohnehin spät dran, flitzt weiter ins Schulgebäude und zu seinem Spind, Bücher für den Unterricht holen. Erste Stunde: Language Arts bei Ms. Burkhardt. Ein jüngerer Schüler, behängt mit Krawatten über dem Arm, stellt sich ihm in den Weg. Will er nicht vielleicht noch eine? Michael schüttelt den Kopf, nimmt eine Treppe nach oben, biegt ein paarmal ab und steht schließlich vor dem Unterrichtszimmer.

Es ist sein zweites Schuljahr in Deutschland. Mittlerweile kennt er sich so gut aus, dass er neue Schüler an ihren ersten Tagen durch das Gebäude führt. Er hilft ihnen bei dem, was ihm selbst lange schwerfiel: in der neuen Heimat zurechtzukommen. „Anfangs war es ein Schock“, erinnert er sich. Soldatenfamilien bleiben nie länger als zwei, drei Jahre an einem Ort. Umzüge sind Alltag. Zum ersten Mal aber musste Michaels Familie die USA verlassen. Er, seine kleine Schwester Molly und die Eltern wussten nicht, was sie hier erwartet. Der ältere Bruder war nicht mitgekommen. Michael war es gewohnt, die Schule zu wechseln und neue Freunde zu finden. Neu für ihn war, dass ihn die Leute vor seiner Haustür nicht verstanden. Sein erster deutscher Satz: „Wo ist die Toilette, bitte?“ Er ließ ihn sich online übersetzen.

Deutschlandweit gibt es mehr als 17 000 Kinder wie Michael, die spezielle amerikanische Schulen besuchen, weil ihr Vater und/oder ihre Mutter in der Armee dienen. Allein um Stuttgart existieren fünf Einrichtungen. Erst 2015 wurde bei der Panzerkaserne in Böblingen ein riesiger neuer Campus mit Grundschule und Highschool für mehr als tausend Schüler eröffnet. 65 Millionen Euro hat die US Army investiert.

Die Schulen tragen viel dazu bei, dass Kindern aus Militärfamilien der Ortswechsel leichtfällt. „Die Ähnlichkeit zu Amerika ist sehr groß“, sagt Michael. Oft verbringt er auch seine Nachmittage in der Kaserne. Gleich neben dem Eingang der Patch Middle School wirbt eine Tafel fürs Freizeitprogramm: Es gibt einen Book Club, einen Debate Club und einen Adventure Club, sogar einen German Club. Am nächsten Abend findet ein Schulball statt. Michael besucht die Treffen der Boy Scouts, der Pfadfinder. Neue Freunde finden? „Kein Problem“, sagt er. Die anderen Schüler suchen genauso Anschluss wie er. Ein deutscher Freund allerdings, jemand aus seiner Nachbarschaft, fällt ihm nicht ein.

Die Turnhalle als Kantine

Kurz vor elf Uhr schrillt die Schulglocke. Es ist Lunch-Time. Die Schüler drängen aus den Klassenzimmern und in die Turnhalle, die sich mit Tischen und Bänken in eine Kantine verwandelt hat. Ein Gewusel aus Haarschöpfen. Mittendrin steht der Rektor Rick Renninger und versucht, das Chaos zu bändigen. Er hat ein großes, helles Büro mit Sekretärin gleich am Eingang der Schule. Meist ist sein Schreibtisch aber verwaist. Ein Schulleiter müsse wissen, was seine Schüler umtreibe, meint er. Deshalb stürzt er sich lieber ins Geschehen.

Auf einer Seite der Halle schaufeln Mitarbeiter Bohnen und Reis mit Fleisch auf Plastiktabletts. Einen Stand weiter decken sich Kinder mit Pizzen, Burgern und Wraps ein. Fast Food in der Schulkantine, in den USA ist das eher die Regel als die Ausnahme. In einer Ecke piept eine Mikrowelle. Michael, der das Schulessen nicht mag, packt seine Vesperdose aus, während seine Freunde ihre Tabletts zu seinem Tisch balancieren. Er knabbert noch an ein paar Chips, als sie schon wieder aufspringen. Den Rest der Pause wollen die Jungs im Freien verbringen. Michael folgt ihnen vorbei an Schaukeln, Klettergerüsten und Rutschen zum Basketballfeld. Schnell haben sich zwei Teams gebildet, die versuchen, sich gegenseitig den Ball abzuluchsen. Im Hintergrund ragt Stacheldrahtzaun auf.

„Basketball ist okay“, sagt Michael. Früher in den USA hat er aber lieber Baseball gespielt. Er war oft im Stadion. In Deutschland bieten die amerikanischen Schulen den Sport erst zur Highschool an. Nicht mal im Fernsehen kann er sich die amerikanischen Teams ansehen – die Spiele laufen wegen der Zeitverschiebung so spät, dass ihn seine Mutter längst ins Bett geschickt hat. Er vermisst Baseball, wie ein deutscher Junge wohl Fußball vermissen würde.

Außer Atem trotten die Jungen wenig später zurück zum Unterricht. Health Education bei Mr. Reed, heute auf dem Lehrplan: Sexualkunde.

Michael mag Fleischkäse

Ein paar Stunden in der Woche hat Michael auch Deutschunterricht. „Es gibt viele komplizierte Wörter, und die Aussprache ist schwierig“, stöhnt er. Es ist nicht leicht, Deutsch zu lernen, wenn um einen herum alle Englisch sprechen und selbst im Fernseher zu Hause nur amerikanische Sender laufen. Immerhin kennt er inzwischen genügend Wörter, um für seine Eltern im Restaurant zu bestellen oder am Wochenende mal beim Bäcker einzukaufen.

Das Essen gehört zu den Dingen, die er an Deutschland besonders mag. Die neueste Entdeckung: Fleischkäse. „Freunde haben uns das gezeigt, wir hatten keine Idee, was es sein sollte, aber wir lieben es.“ Über die bunten Kringel, das, was hier als Donuts verkauft wird, kann er allerdings nur lachen. „Noch nie einen amerikanischen Donut probiert, was?“

Noch etwas anderes schätzt er an seiner neuen Heimat. Letzten Sommer, als der Präsident noch Barack Obama hieß, besuchte er die USA. Er hatte sich auf den Urlaub gefreut, und doch war er froh, nach ein paar Wochen wieder in Deutschland zu sein. „Hier fühle ich mich sicherer“, sagt er und meint damit, dass ihn seine Eltern ohne Bedenken allein mit seinen Freunden um die Häuser ziehen lassen. Das war in den USA nicht immer möglich.

Bald wird er wieder umziehen müssen

Michaels letzte Schulstunde für diesen Tag beginnt, Advisory. Die Schüler können unter Aufsicht Hausaufgaben machen oder in dieser Zeit Gespräche mit anderen Lehrern führen. Stumm beugen sich die Köpfe über aufgeschlagene Bücher. Im Hintergrund klingt meditative Musik. Als Michael um halb drei seinen Kram zusammenpackt, hängt in den Gängen Popcornduft. Ein paar Mütter verkaufen Tüten mit dem gepoppten Mais, gesalzen und gebuttert, wie es die Amerikaner am liebsten naschen, um Geld für die Schule zu sammeln.

Vor dem Gebäude warten schon Michaels Eltern und Schwester Molly. Der Vater trägt noch seine Uniform in Fleckentarn. Sie wollen noch eben rüber in den amerikanischen Supermarkt und dann Michael zum Boy-Scouts-Treffen bringen. Erst am Abend wird der Junge die Kaserne verlassen. Manchmal, sagt er, habe er wirklich das Gefühl, in zwei Welten zu leben. Draußen in Deutschland, hinter der Schranke in Amerika. Er wird bald wieder umziehen müssen. Wohin, weiß er nicht. „Zu Hause ist, wo die Armee ist“, sagt er. Daran hat er sich gewöhnt.