Der französische Regisseur Michel Hazanavicius gehört mit „The Artist“ zu den Favoriten für die Academy Awards, die diesen Sonntag vergeben werden.

Paris - Michel Hazanavicius ist so frei. Mit der Unbekümmertheit eines Filous vergreift sich der Franzose an fremdem Filmgut. Der Regisseur eignet es sich an, formt es um, frischt es auf, setzt seinen Namen darunter – und lacht sich eins, auch wenn er stiehlt wie ein Rabe. Man kann einem derart charmanten Schlawiner nicht böse sein. Einem Jean-Paul Belmondo zürnt man ja auch nicht, wenn er mit schrägem Lächeln die Grenzen des Schicklichen überschreitet. Und vor allem: Hinter Hazanavicius‘ Beutezügen stecken noble Beweggründe. Nicht Habgier, hehrer Schaffensdrang treibt ihn voran.

 

Was immer sich dieser schräge Vogel herauspickt, er transzendiert es, erschafft es neu. Er macht es parodierend nieder oder erhöht es zur Hommage. Im Fall von Hazanavicius‘ jüngstem Spielfilm, „The Artist“, ist die Huldigung so grandios ausgefallen, dass dem Regisseur und seiner Equipe gar ewiger Ruhm winkt. Für zehn Hollywood-Oscars ist das Opus nominiert worden.

Eine hinreißende Liebeserklärung an die Traumfabrik

Vom Stummfilmstar George Valentin erzählt es, den das Aufkommen des Tonfilms aus der Bahn wirft, und von dem Starlet Peppy Miller, das einst in Valentins Schatten stand und zur Ikone des neuen Kinozeitalters avanciert. Zu den Vorlagen des Films zählen zwei Klassiker, Orson Welles „Citizen Kane“ und „Singin‘ in the Rain“ von Stanley Donen und Gene Kelly. Und das Ergebnis ist eine hinreißende Liebeserklärung an die große Traumfabrik Hollywood – und eben so schickt sich ein 44-jähriger Außenseiter an, amerikanischen Altmeistern wie Martin Scorsese („Hugo Cabret“) und Steven Spielberg („War Horse“) die Trophäe wegzuschnappen. Ganze zehn Millionen Euro hat „The Artist“ gekostet, nach 35 Drehtagen war Schluss. Ein Feenmärchen sei das alles, hat Hazanavicius gesagt und übers ganze bärtige Gesicht gegrinst. Als hässliches junges Entlein sei der Film gestartet, als strahlender Schwan konkurriere er nun um Schönheitspreise, sagte er weiter.

Freilich ist es nicht das erste Mal, dass Michel Hazanavicius ins öffentliche Rampenlicht tritt. 1993 hatte er im Fernsehen mit „Die amerikanische Klasse“ Aufsehen erregt. Der Filmemacher war damals ins Archiv der Warner Brothers hinabgestiegen, hatte Szenen aus Hollywoodstreifen mit John Wayne, Henry Fonda, Paul Newman und Dustin Hoffman zusammengeschnitten und den alten Heroen mit witzigen Dialogen neues Leben eingehaucht.

Der Plan des Regisseurs erntete erst viel Kopfschütteln

2006 lockte Hazanavicius‘ James-Bond-Parodie „OSS 117 – Der Spion, der sich liebte“ fast 2,3 Millionen Zuschauer in Frankreichs Kinos. Jean Dujardin, in „The Artist“ der tragische Held George Valentin, trat damals als dümmlich-arroganter Pistolero wahre Lachsalven los. Aber der zweite, mit rassistischen Flüchen reichlich garnierte Agentenklamauk „OSS 117 – Er selbst ist sich genug“ strapazierte die Lachmuskeln dann schon weniger. Und als der Regisseur schließlich mit dem Vorhaben herausrückte, im 3-D-Zeitalter einen Stummfilm drehen zu wollen, in schwarz-weiß obendrein, erntete er Kopfschütteln, wenn nicht deutlichere Gesten der Ablehnung. „So etwas in Hollywood zu drehen, ist unmöglich“, beschied Steven Spielberg den Kollegen.

Aber der Produzent Thomas Langmann hat Hazanavicius erhört, und so dürfen er, Dujardin und acht weitere Mitstreiter am Sonntag in Los Angeles nach den Oscars greifen. Langjährige Weggefährten sind sie alle. Manche sind sogar mehr als das. Bérénice Bejo, die bereits in „Der Spion, der sich liebte“ mitspielte und in „The Artist“ als Peppy Miller glänzt, ist Hazanavicius‘ Lebensgefährtin sowie Mutter seiner Kinder Lucien und Gloria. Ludovic Bource, der zu „The Artist“ die für den Oscar nominierte Musik beigesteuert hat, zählt zu den engsten Freunden des Filmemachers.

Eine Werbekampagne, die ihresgleichen sucht

Der Regisseur hatte dem Komponisten mit dem Stummfilmprojekt die Chance seines Lebens eröffnet. Keine Worte, nur Musik – so viel Entfaltungsspielraum dürfte Bource kein zweites Mal bekommen. Der in der Bretagne aufgewachsene Akkordeon- und Klavierspieler, der über Klassik und Jazz zur Filmmusik gelangte, hat die Chance genutzt. Wie der Regisseur hat auch der Komponist zunächst gewildert. Er hat hier beim von Alfred Hitchcock geschätzten Bernard Herrmann abgekupfert und dort bei Brahms „Sapphischer Ode“ unbekümmert Anleihen genommen. Und wie Hazanavicius hat auch Bource das Alte transzendiert und dabei Neues erschaffen.

Hinter dem Wunder, dass ein französischer Außenseiterregisseur hoffen darf, die Größten der Branche auszustechen, steckt harte Arbeit. Vor allem der amerikanische Verleiher Harvey Weinstein, Chef der Weinstein Company, hat die Ärmel hochgekrempelt. Wenn jemand weiß, wie man an die begehrten Gold-Statuetten kommt, dann er. 249 Nominierungen und 60 Siege haben seine Schutzbefohlenen bereits eingeheimst. Und da Oscar-Preisträger auch Stars sein sollten, Hazanavicius in Amerika aber vor kurzem noch keiner war, hat der Verleiher eine Werbekampagne gestartet, die ihresgleichen sucht. Er hat den Film mehrmals im Weißen Haus vorgeführt, in den US-Zeitschriften „Variety“ und „Vanity Fair“ ganzseitige Werbeanzeigen geschaltet und im ganzen Land gigantische Filmplakate kleben lassen.

„So eine Gelegenheit kommt nur einmal“

Hazanavicius arbeitet mit. „So eine Gelegenheit kommt nur einmal im Leben“, hat er gesagt. Weil die französische Herkunft des Films im Wettstreit mit der amerikanischen Konkurrenz von Nachteil ist, hat der Franzose zu einer List gegriffen und sein Werk als „unfranzösisch“ umdeklariert. Als in Hollywoods historischen Warner- und Paramount-Studios gedrehter Stummfilm mit internationaler Besetzung, darunter den US-Stars John Goodman, Malcolm McDowell und James Cromwell, geht „The Artist“ nun ins Rennen. Zum Zeichen der Amerikanisierung hat der Regisseur außerdem seinen Wohnsitz nach Los Angeles verlegt. „Alles Notwendige ist getan, damit man nicht mehr sieht, dass es eine französische Produktion ist“, verkündet Adrien Sarre zufrieden, der Leiter des Filmbüros am französischen Generalkonsulat in Los Angeles.

Michel Hazanavicius müssen bei den Oscar-Verleihungen am Sonntag die Augen übergehen: Er ist der Protagonist einer Parodie aufs Filmgeschäft, wie er selbst sie nicht schöner hätte schaffen können.