Michel Houellebecqs neuer Roman ist in den Strudel der terroristischen Ereignisse in Paris geraten. Doch sein Buch schürt keinen Hass, sondern entwickelt das Gedankenspiel einer friedlichen, muslimisch regierten Nation.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Eine Begebenheit auf einer leicht dekadenten akademischen Cocktail-party im Herzen von Paris. Man berauscht sich an edlen Getränken und den vergessenen Namen literarischer Schattengewächse, Barbey, Bloy, wem auch immer. Da hört man aus der Ferne plötzlich ein fortgesetztes Geknalle. „Was glaubt ihr, was das ist“, fragt jemand, „klingt wie Schüsse.“ Alle Unterhaltungen verstummen. Nach dem Attentat auf die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ liest man diese Szene aus Michel Houellebecqs neuem Roman „Unterwerfung“ mit anderen Augen als zuvor. Zumal sich die letzte von den ermordeten Redakteuren verantwortete Ausgabe auf ihrer Titelseite noch über die prophetischen Allüren des Autors mokiert hatte.

 

Doch wie verhalten sich die prospektiven und die zeitdiagnostischen, die visionären und die satirischen Momente dieses schon vor seinem Erscheinen in die Debatte eingespeisten Werkes nun wirklich zu den Ereignissen in Frankreich? Wie sein Verlag am Freitag bekanntgegeben hat, soll sich der Schriftsteller, der bei dem Attentat seinen Freund Bernard Maris verloren hat, aus Paris zurückgezogen haben. Es gibt vielleicht kein Buch in der jüngeren Geschichte, das auf vergleichbare Weise in den Strudel tagespolitischer Ereignisse geraten ist, wie Houellebecqs Roman. Keines zumindest, dessen Protagonist ein Spezialist für einen Autor ist, der sich vor der banalen Wirklichkeit in ästhetizistischen Wunschwelten verbarrikadiert hat, und dessen Namen diesseits und jenseits des Abendlandes die wenigsten auch nur buchstabieren können: Joris-Karl Huysmans, der 1907 in Paris gestorbene Großmeister der Dekadenz, der am Ende im Schoß der Kirche seinen Frieden gefunden hat. Er ist der Säulenheilige des Literaturwissenschaftlers François, des demolierten Ich-Erzählers des Romans.

Weltekel und spirituelle Sehnsucht

Hier, bei diesem retrospektiven literaturgeschichtlichen Setting, in dem sich Weltekel und spirituelle Sehnsucht durchdringen, müsste eine Besprechung ansetzen. Zumindest wenn sie mehr im Sinn hat, als nur der erhitzten Skandalisierungsbereitschaft hochentflammbare Stichworte zu liefern: Islamisierung Frankreichs, Bürgerkrieg, Untergang des Abendlandes. Es dauert ziemlich lange, bis das erste Kopftuch auftaucht, der erste Muslim seinen Auftritt hat. Bis dahin geht es um nichts als Literatur und um das, worum es bei Houellebecq immer geht: Probleme mit den verdinglichten Daseinsformen des Spätkapitalismus, der sich hier dem Handlungszeitraum des Romans gemäß – Anfang der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts – noch etwas später und auswegloser präsentiert, Probleme mit dem verfallenden Leib, mit Frauen, dem Alkohol, der Einsamkeit. All dies verdichtet sich in einer Haltung, die ziemlich genau der des vorangestellten Huysmans-Mottos entspricht: „Mein Leben ekelt mich an, ich bin meiner überdrüssig. (. . .) Mein Herz ist durch das lockere Leben verhärtet und vertrocknet, ich bin zu nichts nütze.“

Wir folgen diesem nutzlosen Literaturwissenschaftler durch sein beschädigtes Dasein, und wie immer bei Houellebecq zieht sein Antiheld aus den Lizenzen des Beschädigtseins die letzte Konsequenz, was ihn nicht wirklich sympathisch macht. Der Versuch, es seinem dekadenten Idol gleichzutun und sich zu bekehren, scheitert, religiöse Visionen zeigen sich bei ihm nur als Effekt der Unterzuckerung. Er techtelmechtelt mit seinen Studentinnen, flirtet gelangweilt mit rechtsintellektuellen Ideologemen, glücklich macht ihn das eine so wenig wie das andere.

Unter dem islamischen Präsidenten geht es aufwärts

Interessanter ist, was um ihn herum passiert. In das politische System Frankreichs ist Bewegung gekommen: Das bisherige demokratische Wechselspiel zwischen zwei „rivalisierenden Gangs“, Mitte-rechts und Mitte-links, durchkreuzen neue Akteure. Die Rechtsextremen sind auf dem Vormarsch, auch wenn 2017 noch einmal in einem immer unverhohlener rechts denkenden Land ein linker Präsident, François Hollande, gewählt wurde. Nun, fünf Jahre später, hat es ein Kandidat der gemäßigten islamischen Bruderschaft der Muslime geschafft, mit hauchdünner Mehrheit und gestützt von einer republikanischen Front aus Sozialisten und Konservativen ins Präsidentenamt gewählt zu werden. Auf den Straßen schlagen sich anfangs noch Dschihadisten und identitäre Abendlandsmilizen die Köpfe ein, aber dann kehrt Ruhe ein, und es geht wieder aufwärts.

Präsident Ben Abbes hat die École Polytechnique absolviert und verspricht die Rückkehr der Religion im Einklang mit den großen spirituellen Traditionen des Landes – was François’ jüdische Freundin nicht davon abhält, doch lieber nach Israel zu emigrieren. Die Kriminalitätsrate sinkt, ebenso die Arbeitslosigkeit. Das spirituell erneuerte Frankreich schickt sich an, die Führung in einer Europäischen Union zu übernehmen, in der das versunkene römische Imperium, erweitert um die arabischen Mittelmeerstaaten und das Osmanische Reich, wiederauferstehen könnte. Von wegen Untergang.

Rechte und islamistische Kräfte spielen sich in die Hände

Nein, Houellebecq ist weit davon entfernt, ein rechtes Zerrbild der islamischen Machtergreifung auszumalen, auch wenn in seinem Denkspiel über der Sorbonne der bestirnte Halbmond aufgeht, auf den Straßen bald statt Miniröcken Schleier und weite Hosen dominieren, und ein Teil der positiven Beschäftigungsrate sich dem Verschwinden der Frauen aus dem Arbeitsmarkt verdankt. Natürlich ist dieser Autor nicht der Mann für ungebrochene Utopien. Die Einblicke in das kommende Frankreich entwickelt sein von der neuen Regierung frühpensionierter Protagonist im Zustand dauerbedullerter Bewusstseinstrübung. Ob seine Einsamkeit schließlich wirklich im Hafen einer polygamen Ehe endet, bleibt im ungewissen Konjunktiv.

Doch die eigentliche Pointe dieser gegenwartsgesättigten Zukunftsfantasie liegt darin, dass sich die rechten und die islamistischen Kräfte um den Konvergenzpunkt einer Wiederkehr des Patriarchats gegenseitig in die Hände spielen. Selten hat sich eine literarische Versuchsordnung so nahe an die Wirklichkeit gewagt. Man sollte ihr das nicht zum Vorwurf machen. Wirklich auf den Schlips getreten fühlen dürften sich allenfalls die Huysmans-Forscher.