Midlife-Crisis als Challenge sehen „Jahre ab 45 sind wie eine zweite Pubertät“

Alles war gut in ihrem Leben, aber dann kamen Falten und Rücken und im Freundeskreis ging es drunter und drüber, sagt Petra Kiedaisch. Foto:  

Falten, Trennung, Menopause: Wie komme ich gut durch das mittlere Alter, ohne in eine Krise zu geraten? Das hat sich die Stuttgarter Verlegerin und psychologische Beraterin Petra Kiedaisch gefragt.

Familie/Bildung/Soziales: Lisa Welzhofer (wel)

Bandscheibe, Pflegeversicherung, Menopause – und dann auch noch die großen Sinnfragen. In den Jahren zwischen 45 und 65 ist was los. Was zu tun ist, damit aus der Midlife-Crisis eine Midlife-Challenge wird und wie sie selber durch diese Zeit kommt, erklärt Petra Kiedaisch (57) im Interview und in ihrem neuen Buch.

 

Frau Kiedaisch, Sie schreiben „Angefangen hat alles mit 49“. Was passierte damals mit Ihnen?

Ich hatte das Gefühl, angekommen zu sein. Alles war gut, familiär und beruflich. Über das Älterwerden machte ich mir keine Gedanken. Aber, schwups, kamen die ersten körperlichen Veränderungen: Bandscheibe, Wechseljahre, Lesebrille, Falten, graue Haare. Meine Eltern wurden pflegebedürftig. Ich gehörte nicht mehr zu den Jüngeren, sondern zu den Älteren. Auch im Umfeld passierte viel.

Was?

Freunde ließen sich scheiden, orientierten sich beruflich um, wurden krank, starben. Während der Pandemie fing ich an, online Psychologie zu studieren und zum Thema Lebensmitte zu recherchieren. Mir wurde klar: Viele treiben diese Themen um, aber sie sprechen nicht darüber, weil es peinlich ist, weil sie von den Eltern gelernt haben, nicht über Negatives zu sprechen.

Hatten Sie die berühmte Midlife-Crisis?

Ich hatte keine Krise, aber ich suchte Orientierung, um meinen Blick auf mich, auf meine Freunde und die Familie zu ändern. Ich vermisste eine Anleitung, welche Themen ich nun angehen muss, welche Perspektiven sich öffnen. Deshalb habe ich ein Buch konzipiert, das meine Fragen beantwortet. Es sollte zeigen, wie aus der Midlife-Crisis eine Midlife-Challenge wird, eine Herausforderung, ein Aufbruch in die zweite Lebenshälfte, die gut 40 Jahre dauern kann.

Warum nennen Sie diese Zeit zwischen 45 und 65 „zweite Pubertät“?

Es scheint mir das passende Bild für diesen großen Umbruch zu sein, der nicht nur hormonelle Veränderungen umfasst, sondern auch psychologische, philosophische, materielle. In dem viele ähnliche Erfahrungen machen: Die Kinder ziehen aus, die Eltern werden alt oder sterben, im Beruf geht es langsam Richtung Rente. Es ist wie in der ersten Pubertät: Man legt seine Identität noch einmal neu fest und baut sie aus. Es ist wie ein zweites Erwachsenwerden.

Pubertierende sind oft erratisch in ihrem Verhalten und verzweifelt.

Ja, insofern ist es auch ein Trostbuch. Mit dem Bild der Pubertät will ich dazu auffordern, Verantwortung neu zu übernehmen, für sich und für andere. Man sollte nicht in der Verzweiflung verharren, sondern sich wieder finden. Etwas Verrücktes zu tun, ist natürlich auch erlaubt.

Die mittelalte Frau bevölkert derzeit viele Ratgeber und Romane. Auch Miranda July hat mit „Auf allen vieren“ eine Geschichte über die Perimenopause vorgelegt. /Imago/Elizabeth Weinberg.

Frauen erleben große körperliche Veränderungen. Stichwort Menopause.

Der Männerkörper verändert sich ebenfalls, auch die Sexualität. Es ist für beide Geschlechter ein Umbruch, der verunsichert, deshalb richtet sich mein Buch an Männer und Frauen. Ich wollte kein Menopausen-Buch schreiben, dazu gibt es schon sehr Vieles: Podcasts, Online-Plattformen #wirsindneunmillionen, aber auch Sachbücher wie „Woman on Fire“ von Sheila de Liz und Romane.

Firmen wie Vodafone klären ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen neuerdings über die Menopause als Teil der Personalpolitik auf. Werden Frauen so nicht zu Opfern ihres Körpers gemacht, die in bestimmten Phasen nicht so leistungsfähig sind?

Offen über das Thema Lebensmitte zu sprechen, sollte auf keinen Fall heißen, sich zum Opfer zu machen. Es geht darum zu zeigen, dass sich aus diesen Umbrüchen eine ganz neue Reife und Stärke entwickeln kann, wie es etwa Miriam Stein in „Die gereizte Frau“ beschreibt.

Was rät der Philosoph Martin Gessmann, der eines der Kapitel geschrieben hat?

Er begreift diese Phase als zweite Jugend, die noch besser sein kann als die erste, weil wir so viel erlebt, so viele Menschen und die Welt kennengelernt haben. Wir sind nun in der Lage, unser zuvor vielleicht vages Ideal von Weltgestaltung umzusetzen. Er empfiehlt, die großen Fragen zu stellen: Wo ist meine Heimat? Wo will ich älter werden? Was will ich noch erreichen? Aus den Antworten lässt sich ein kleiner Fahrplan für die nächsten Jahrzehnte entwickeln.

Bleibt dafür Zeit, wenn gleichzeitig alte Eltern betreut, halbwüchsige Kinder großgezogen und ein Job erledigt werden muss?

Deswegen ist dafür 20 Jahre lang Zeit. Die Psychologin Claudia Kühner sagt, dass die Lebensmitte der richtige Zeitpunkt ist, um zurückzublicken und zu überlegen, was so weiterlaufen soll und was nicht. Das ist eine Form, sich gut um sich zu kümmern.

Und dann gibt es noch ganz praktische Dinge zu erledigen.

Richtig. Es geht um Themen wie medizinische Vorsorge. Dass Dokumente und Verträge für den eigenen Krankheits-, Pflege- oder Todesfall parat liegen. Außerdem sollte man sich finanziell für die Zeit nach der Berufstätigkeit wappnet. Das Buch schließt mit einem Beitrag des Pfarrers Georg Eberhardt. Er fordert dazu auf, die Gretchenfrage nach dem Glauben zu stellen. Also danach, woraus sich die Kraft für alles, was kommt, speist.

Ist nicht das Schwierigste von allem, sich mit der Endlichkeit abzufinden? Im Gegensatz zur ersten Pubertät, in der das Leben noch grenzenlos scheint.

Ich habe dieses Jahr beide Eltern verloren, jetzt gehöre ich zur ältesten Generation der Familie. Mit meiner Endlichkeit umzugehen, war für mich ein starkes Motiv, das Buch anzugehen. Aber es soll nicht zur Melancholie verleiten, sondern dazu, die Wahnsinnswegstrecke, die noch kommt, mitzugestalten. Ein Ruf zum Aufbruch sozusagen.

Erzeugt das ständige Mantra, die Krise als Chance zu sehen, nicht unglaublichen Druck? Darf man nicht auch mal ein bisschen jammern?

Unbedingt. Ich wollte für mich nur einen Weg finden, mit der Klage umzugehen. Aber das ist kein Ratgeber für oder ein Versprechen auf ein glücklicheres Leben. Eher ein Werkzeugkoffer, aus dem sich jeder etwas heraussuchen kann.

Sie sind 57. Wo stehen Sie?

Ich habe einiges geschafft, zum Beispiel zusammen mit meinem Bruder die Eltern sieben Jahre lang begleitet. Ich habe gelernt, mehr auf mich und meine Gesundheit zu achten. Aber die Fragen, die die Experten aufwerfen, nehme ich als Hausaufgabe mit.

VHS-Reihe und Buchvorstellung

Die Herausgeberin
Petra Kiedaisch, Jahrgang 1967, stammt aus Stuttgart und hat Germanistik, BWL und Literaturvermittlung studiert. Sie ist Verlegerin der av edition in Stuttgart und psychologische Beraterin. Ihr Buch „45+ – Ein Ratgeber für die Zweite Pubertät“ ist jetzt im Hirzel-Verlag erschienen und kostet 24 Euro. In 9 Kapiteln geben Expertinnen und Experten, viele von ihnen aus der Region Stuttgart, Einblick in verschiedene Themenbereiche wie Recht, Finanzen, Pflegeversicherung, Psychologie, Medizin, Ernährung und Philosophie. Neben Informationen und Reflexionen finden Leser auch jeweils eine Anleitung, was nun wichtig zu beachten und anzugehen wäre.

Veranstaltungen
In mehreren VHS-Terminen stellen die einzelnen Autoren des Sammelbandes die Themen ihrer Kapitel vor. Los geht es am 7. November mit dem Thema Psychologie, es folgen Medizin, Recht, Ernährung, Finanzen, Philosophie und Religion. Mehr Informationen auf der Homepage der VHS. Am Dienstag, 3. Dezember, stellt Petra Kiedaisch ihren Ratgeber um 19.30 Uhr im Kulturcafé Melva in Stuttgart-West vor.

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