Eine Eisenerzmine bedroht das Leben der Ureinwohner: Das ZDF startet am Sonntag die vierteilige französisch-schwedische Krimiserie „Midnight Sun“. Und man stellt fest: Die Verbrechen im Fernsehen werden immer grausamer, die Bilder immer gewaltiger.

Stuttgart - Eine Eigenheit der menschlichen Erregungskurve besteht darin, dass sie im Alter zum Abflachen neigt. Im Laufe des Lebens leiert unsere Aufmerksamkeitsspanne so aus, dass es immer stärkerer Reize bedarf, sie auf Zug zu halten. Anthropologisch gesehen hat das durchaus seinen Sinn. Andernfalls würden sich Erwachsene wie Kleinkinder über Pupsgeräusche schlapplachen und – von aller Sorge befreit – leichten Sinns vor fahrende Autos laufen. Fiktional hingegen führt altersbedingte Abstumpfung dazu, dass wir mit Entertainment ohne Effekthascherei kaum noch in Wallung geraten. Und schuld daran ist – nein, gar nicht mal Hollywood.

 

Sondern Skandinavien.

Seit zwei Jahrzehnten produzieren unsere Nachbarn reihenweise TV-Leichen, bei denen man sich zur Entspannung nach dem guten alten Lungensteckschuss in „Derrick“ sehnt. Unter vier, fünf Tötungsmethoden Art auf einmal geht da seit Kommissar Wallander wenig. Und jetzt brandneu: das Rotorblatt eines startenden Helikopters. An diesem Fahrzeugteil nämlich wird zu Beginn des schwedisch-französischen ZDF-Vierteilers „Midnight Sun“ ein Mann festgebunden und zu Tode zentrifugiert, bis ihm gut sichtbar das Hirn aus dem Kopf fliegt. So also geht es jenseits vom Polarkreis zu, wo die Sonne sommers nie untergeht, aber schon mittags ein diffuses Licht von durchdringender Traurigkeit abstrahlt.

Weil das erste Opfer im beschaulichen Bergarbeiternest Kiruna Franzose ist, wird die Pariser Polizistin Kahina Zadi (Leïla Bekhti) zum Tatort gerufen. Gemeinsam mit der regionalen Gendarmerie, zwei Staatsanwälten und dem Hubschrauberpiloten Thor (Richard Ulfsäter) bekommt sie es fortan mit einer Reihe weiterer Ritualmorde zu tun, die unsere Aufmerksamkeit mit explizierter Grausamkeit unter Spannung hält. Allein im ersten Teil kommen zum Einsatz: ein Wolfsrudel, ein Wurfspeer und eine Todesliste mit rund zwanzig Namen, deren Inhabern ähnliches bevorsteht. Und das allem Anschein nach, weil die lokale Eisenerzmine zwar Wohlstand mit sich bringt, aber auch eine Umweltzerstörung, die das Erbe der Ureinwohner bedroht.

Design in der Steppe

Wenn die schöne Großstadtkommissarin dann noch ein dunkles Familiengeheimnis durch ihre Provinzermittlungen schleppt, wird klar: Skandinavische Thriller mögen dem Publikum mal eine beispiellose Mixtur aus Normalität und Ausschweifung kredenzt haben, mittlerweile jedoch schmeckt das laue Süppchen selbstreferenzieller Extravaganz auch nicht mehr viel besser als deutscher Krimibraten mit Soße. Einzig Staatsanwalt Burlin, angenehm knorrig gespielt vom amerikanischen Killer-Experten Peter Stormare („Fargo“), sorgt – trotz der fast boshaft miesen Synchronisation, die ihn zum Low-Budget-Charles-Bronson macht – für einen Hauch von Esprit.

Da er die Ermittlungen aber nicht ganz bis zum Ende der insgesamt 400 Serienminuten führen wird, muss allerdings etwas anderes das Publikum bei Laune halten. Und nein, es ist nicht der ostentative Unterschied zwischen dem bildschönen Unterwäschemodel Zadi und dem anämischen Einsatzleiter Harnesk. Es ist auch nicht der Kontrast zwischen Provinz und Urbanität, die sich im Kompetenzgerangel ortsansässiger und zugereister Protagonisten Luft verschafft. Es ist das visuell starke Wechselspiel aus Natur und zivilisatorischer Moderne, das sich vielleicht nirgendwo besser darstellen lässt als im baumbestandenen Designerland Schweden.

Wie bereits in „Die Brücke“ erschaffen Mans Marlind (Buch) und Björn Stein (Regie) eine Bildgewalt, der man sich nur schwer entziehen kann. Vielleicht schaut man sich „Midnight Sun“ daher nicht als Thriller, sondern als Naturdoku an und geht bei den dauernden Grausamkeiten kurz Bier holen. Das nämlich braucht man, um Klischees und Dialoge zu ertragen. Schön anzusehen ist der Rest allemal.