In Calais warten Tausende Migranten auf die Gelegenheit zur Überfahrt über den Ärmelkanal. Sie hoffen auf ein sicheres Leben, auch weil sie in Europa keine Zukunft mehr sehen.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Calais - Es ist kein guter Tag, um sich aufs offene Meer zu wagen. Schon gar nicht in einem kleinen Schlauchboot. Die ganze Nacht über hat es geregnet und nun treibt der Wind die tief hängenden Wolken in Böen am frühen Morgen den schmalen Sandstrand entlang. Bei klarem Wetter wären die weißen Klippen von Dover auf der anderen Seite des Ärmelkanals zu erahnen, doch nun verliert sich alles in einem zwielichtigen Grau. Selbst ganz hart gesottene Hundebesitzer bleiben an solchen Tagen zuhause, dafür patrouillieren Polizeifahrzeuge auf der Küstenstraße von Calais in Richtung Boulogne-sur-Mer. Immer wieder stoppen die Beamten ihre Fahrt, sie suchen nach Migrantencamps in den Dünen. 24 Stunden am Tag werde der Bereich auch mit Helikoptern und Schiffen überwacht, sagt einer der Polizisten. Geplant war auch der Einsatz von Drohnen, die dürfen allerdings wegen rechtlicher Bedenken nicht aufsteigen. Der Beamte mag das am Ende seiner langen Nachtschicht nicht kommentieren.

 

Niemand kennt die Zahl der Migranten

Knapp 2000 Männer, Frauen und Kinder verstecken sich im Moment rund um Calais, um die gefährliche Überfahrt nach Großbritannien in Angriff zu nehmen, schätzt die französische Hilfsorganisation L’Auberge des Migrants. Selbst die Helfer kennen keine genauen Zahlen, denn die Menschen versuchen, für alle unsichtbar zu bleiben. Die täglichen Berichte der Küstenwache lassen allerdings erahnen, wie viele sich kurz vor Wintereinbruch noch auf den Weg übers Meer machen. Mehrere Hundert Menschen wurden laut den französischen Behörden im Ärmelkanal zwischen Frankreich und Großbritannien in den vergangenen Tagen aus Seenot gerettet. Seit Beginn des Jahres waren es knapp 16 000 - deutlich mehr als in vergangenen Jahren. Einer ähnlich großen Zahl dürfte die Überfahrt nach Großbritannien gelungen sein.

Unbekannt bleibt auch die Anzahl der Menschen, die bei der Überfahrt ihr Leben lassen mussten. In diesen Tagen wurden an einem Strand südlich von Calais ein toter und zwei völlig unterkühlte Migranten neben einem kleinen Boot gefunden. Zu einer Tragödie kam es, als eine Gruppe von Flüchtlingen versuchte, die Bahnstrecke zwischen Calais und Dunkerque/Dünkirchen zu überqueren und mehrere Menschen dabei von einem Zug erfasst wurden. Ein Mann wurde getötet, drei weitere schwer verletzt.

Die Polizei steht vor einer neuen Situation

„Im Moment ist die Lage sehr angespannt“, sagt Frédéric Baland von der Polizeigewerkschaft in Calais. Das hänge auch damit zusammen, dass die Migranten inzwischen versuchen würden, auf andere Weise den Kanal zu überqueren. Anfangs hatten sich viele auf Lastwagen versteckt, um durch den Tunnel nach England zu gelangen. Das aber ist nach dem Aufbau von millionenteuren Sperr- und Überwachungsanlagen rund um den Bahnhof in Calais und den Zufahrtsstraßen fast unmöglich geworden. Danach versuchten die Schlepper, die Leute mit größeren Booten über den Kanal zu schleusen, die konnten allerdings relativ leicht entdeckt und abgefangen werden. Inzwischen wagen sich die Verzweifelten selbst in sehr kleinen Schlauchbooten aufs Meer. Zudem starten sie von mehreren, weit voneinander entfernt liegenden Punkten am Strand, was die Überwachung praktisch unmöglich macht. Diese „small boats“ seien eine ziemlich neue Sache, erklärt Bruno Noël von der regionalen Polizeigewerkschaft im Pas-de-Calais, und mache die Arbeit der Beamten sehr kompliziert. Dann erzählt er noch, dass sie inzwischen innerhalb einer Woche eine Person bisweilen mehrere Male aufgreifen und wieder laufenlassen müssten, was sehr frustrierend sei.

Zu einem immer größeren Problem werden auch die zunehmenden Spannungen zwischen der Polizei und den Hilfsorganisationen vor Ort. Fast täglich räumen die Beamten illegale Camps der Migranten in den Dünen oder am Stadtrand von Calais. Dabei zerstören sie die provisorischen Zelte und gehen dabei nicht immer zimperlich zu Sache. Jüngst kam es bei solch einem Einsatz zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und Mitarbeitern einer Hilfsorganisation. Anfang Oktober traten der Jesuitenpriester Philippe Demeestère und zwei Aktivisten in einen Hungerstreik und fordern ein Ende der Aktionen. „Lasst die Leute in Ruhe, lasst sie zumindest für den Winter in Ruhe“, fordert der Geistliche.

Die Angst vor einem neuen „Dschungel“

Genau das wird die Polizei allerdings nicht tun. Denn die Verantwortlichen von Stadt, Region und auch in Paris hegen die sehr große Befürchtung, dass sich schnell wieder ein großes Migrantenlager bilden könnte. Alle haben die Bilder vom „Dschungel von Calais“ vor Augen, eine Slum-artige Ansammlung von zusammengezimmerten Hütten und Zelten am Stadtrand der Gemeinde, in dem im Jahr 2015 über 10.000 Migranten unter menschenunwürdigen Bedingungen hausten und das dann mit Gewalt geräumt wurde.

Viele der Bürger von Calais haben nach Jahren des Flüchtlingselends direkt vor ihrer Haustüre die Geduld verloren. Sie sehen sich als Verlierer in einem zynischen Spiel. „Die Engländer kaufen sich aus der Verantwortung“, schimpft eine Frau. „Sie überweisen uns ein paar Millionen Euro, damit wir die Leute hier abfangen und wir haben die gesellschaftlichen, menschlichen und sozialen Probleme.“ Ihr Haus steht am Rand eines kleinen Waldstückchens, in dem sich immer wieder Migranten verstecken und das regelmäßig von der Polizei durchkämmt wird. Anfangs habe sie den „armen Teufeln noch was zu essen gebracht“, erzählt die Frau. Inzwischen sei sie aber mit den Nerven am Ende, auch weil schon zwei Mal eingebrochen worden sei. Ob die Täter Migranten waren, weiß sie nicht.

Eine Odyssee durch halb Europa

Während sie das erzählt, gehen zwei dunkelhäutige Männer den kleinen Weg entlang. Einer von ihnen ist Robel, er stammt aus Eritrea und hat dieselbe Geschichte von politischer Verfolgung, wirtschaftlicher Hoffnungslosigkeit und lebensgefährlicher Flucht hinter sich, wie die meisten Migranten, die nun am Rand des Ärmelkanals gestrandet sind. Er will nach England, weil dort seit ein paar Jahren ein Freund von ihm lebt und sogar eine Arbeit gefunden hat. Vor allem aber wisse er nicht, wohin er nach seiner Odyssee durch halb Europa überhaupt noch soll.

Solche Geschichten treiben François Guennoc, Präsident der Hilfsorganisation L’Auberge des Migrants in Calais auf die Palme. „Anders als immer wieder behauptet wird, sehen diese jungen Menschen Großbritannien nicht als das gelobte Land“, sagt er. Ihnen bleibe nur die Flucht über den Ärmelkanal, weil ihnen in der EU das Asyl verweigert worden ist, weil ihre Aufenthaltspapiere nicht verlängert worden sind oder auch weil sie in Frankreich nach den Regeln des Dublin-Abkommens sowieso keine Papiere bekommen können. François Guennoc fordert, dass das Asylsystem in der EU grundlegend geändert wird.

Darauf aber will Robel nicht warten. Er ist schon seit einigen Wochen in Calais und hofft auf eine günstige Gelegenheit, den Ärmelkanal zu überqueren. 1500 Dollar hat er für den Platz auf einem Boot bezahlt. War er am Anfang noch optimistisch, wird er langsam nervös wegen des nahenden Winters. Die Kälte und die lange Überfahrt in dem Schlauchboot machen ihm allerdings keine Angst. Seine einzige Sorge: er kann nicht schwimmen.