Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Hassan Dnanie hat den Konvoi begleitet und mit seinem Smartphone bedrückende Videos gemacht. Sie zeigen traumatisierte Menschen, die barfuß auf von tagelangem Regen durchweichtem Boden stehen und furchtbare Geschichten erzählen. Ein 13-jähriges Mädchen berichtet, wie sein Dorf von einer IS-Miliz überfallen wurde. Männer, alte Frauen, junge Frauen und Kinder seien in vier Gruppen geteilt und verschleppt worden. Die 13-Jährige konnte entkommen, ihre Eltern und ihre zehn Geschwister wird sie wohl niemals wiedersehen. Laut Amnesty International droht den irakischen Jesiden ein Genozid.

 

Das Jesidentum ist seit dem 12. Jahrhundert in schriftlichen Quellen nachweisbar, vermutlich ist es aber viel älter: Die Wurzeln der Religion liegen Forschungen zufolge im Sonnenkult Altpersiens, in der Lehre des iranischen Propheten Zarathustra und im Mithras-Kult der Römer. Man schätzt die Zahl der Angehörigen auf 800 000, davon ist rund die Hälfte im Nahen Osten ansässig. Gott ist in diesem Glaubenssystem den Dingen enthoben, die von ihm geschaffene Welt vertraute er sieben Erzengeln an. An deren Spitze steht Taus-i Melek, der „Engel Pfau“. Im Jesidentum existiert kein religiöses Buch wie der Koran oder die Bibel, die Grundsätze und die Rituale werden mündlich von Generation zu Generation weitergegeben: Seelenwanderung und Wiedergeburt, ein Kastensystem mit geistlichen Sheikhs und Pirs sowie der Masse von Muriden. Jeder Jeside wählt einen Bruder oder eine Schwester für das Leben nach dem Tod aus, diese Wahlgeschwister übernehmen am Tag des jüngsten Gerichts und im Jenseits gegenseitig die moralische Mitverantwortung für ihre Taten. Es gibt keine Kirchen und keine regelmäßigen Gottesdienste.

Als Jeside kann man nur geboren werden, beide Eltern müssen Angehörige der Religion sein. Konvertieren ist unmöglich. Aus diesem Prinzip resultiert, dass Jesiden nicht missionieren: Sie akzeptieren Andersgläubige, verhalten sich nach außen liberal. Das Innenleben der Gemeinschaft wird hingegen von einer strikten Regel bestimmt: Jesiden dürfen nur untereinander heiraten. Selbst Ahmed Kurt, der seit 27 Jahren in Pforzheim lebt und auf dem Markt in Marbach am Neckar Obst und Gemüse verkauft, könnte es nicht akzeptieren, wenn sich seine Tochter in einen Christen, Juden oder Muslim verlieben würde – „wegen der unterschiedlichen Mentalitäten“, wie er sagt.

In der deutschen Diaspora ist eine solche Auffassung problematisch. „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung“, heißt es in Artikel zwei des Grundgesetzes. Wie geht man mit Migranten um, die nicht in der Moderne angekommen sind?

Als Anita Gondek, 51, vor sieben Jahren städtische Integrationsbeauftragte wurde, stellte sich diese Frage noch nicht. „Es war alles im Lot“, sagt sie. Die Bürger mit türkischen, griechischen oder italienischen Wurzeln gehörten zu Pforzheim wie die Schmuckindustrie, und auch die Spätaussiedler hatten sich gut akklimatisiert. Dann passierte etwas, womit die Stadtverwaltung nicht rechnen konnte: Zwischen 2008 und 2010 strömten fast 2000 irakische Jesiden nach Pforzheim.

Hassan Dnanie hat den Konvoi begleitet und mit seinem Smartphone bedrückende Videos gemacht. Sie zeigen traumatisierte Menschen, die barfuß auf von tagelangem Regen durchweichtem Boden stehen und furchtbare Geschichten erzählen. Ein 13-jähriges Mädchen berichtet, wie sein Dorf von einer IS-Miliz überfallen wurde. Männer, alte Frauen, junge Frauen und Kinder seien in vier Gruppen geteilt und verschleppt worden. Die 13-Jährige konnte entkommen, ihre Eltern und ihre zehn Geschwister wird sie wohl niemals wiedersehen. Laut Amnesty International droht den irakischen Jesiden ein Genozid.

Das Jesidentum ist seit dem 12. Jahrhundert in schriftlichen Quellen nachweisbar, vermutlich ist es aber viel älter: Die Wurzeln der Religion liegen Forschungen zufolge im Sonnenkult Altpersiens, in der Lehre des iranischen Propheten Zarathustra und im Mithras-Kult der Römer. Man schätzt die Zahl der Angehörigen auf 800 000, davon ist rund die Hälfte im Nahen Osten ansässig. Gott ist in diesem Glaubenssystem den Dingen enthoben, die von ihm geschaffene Welt vertraute er sieben Erzengeln an. An deren Spitze steht Taus-i Melek, der „Engel Pfau“. Im Jesidentum existiert kein religiöses Buch wie der Koran oder die Bibel, die Grundsätze und die Rituale werden mündlich von Generation zu Generation weitergegeben: Seelenwanderung und Wiedergeburt, ein Kastensystem mit geistlichen Sheikhs und Pirs sowie der Masse von Muriden. Jeder Jeside wählt einen Bruder oder eine Schwester für das Leben nach dem Tod aus, diese Wahlgeschwister übernehmen am Tag des jüngsten Gerichts und im Jenseits gegenseitig die moralische Mitverantwortung für ihre Taten. Es gibt keine Kirchen und keine regelmäßigen Gottesdienste.

Als Jeside kann man nur geboren werden, beide Eltern müssen Angehörige der Religion sein. Konvertieren ist unmöglich. Aus diesem Prinzip resultiert, dass Jesiden nicht missionieren: Sie akzeptieren Andersgläubige, verhalten sich nach außen liberal. Das Innenleben der Gemeinschaft wird hingegen von einer strikten Regel bestimmt: Jesiden dürfen nur untereinander heiraten. Selbst Ahmed Kurt, der seit 27 Jahren in Pforzheim lebt und auf dem Markt in Marbach am Neckar Obst und Gemüse verkauft, könnte es nicht akzeptieren, wenn sich seine Tochter in einen Christen, Juden oder Muslim verlieben würde – „wegen der unterschiedlichen Mentalitäten“, wie er sagt.

In der deutschen Diaspora ist eine solche Auffassung problematisch. „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung“, heißt es in Artikel zwei des Grundgesetzes. Wie geht man mit Migranten um, die nicht in der Moderne angekommen sind?

Als Anita Gondek, 51, vor sieben Jahren städtische Integrationsbeauftragte wurde, stellte sich diese Frage noch nicht. „Es war alles im Lot“, sagt sie. Die Bürger mit türkischen, griechischen oder italienischen Wurzeln gehörten zu Pforzheim wie die Schmuckindustrie, und auch die Spätaussiedler hatten sich gut akklimatisiert. Dann passierte etwas, womit die Stadtverwaltung nicht rechnen konnte: Zwischen 2008 und 2010 strömten fast 2000 irakische Jesiden nach Pforzheim.

Ein fremder Kosmos

Erst kamen Männer, die von einem Tierfuttermittelhersteller im benachbarten Bretten als Billiglöhner angeheuert wurden. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung eröffnete ihnen rechtlich die Möglichkeit, ihre Frauen und ihre zahlreichen Kinder nach Pforzheim zu holen. Keiner von ihnen sprach Deutsch, viele konnten nicht mal Texte in ihrer Muttersprache lesen. Eine Befragung ergab, dass lediglich sechs Prozent der Erwachsenen eine abgeschlossene Ausbildung besaß. Auf die Frage, welchen Beruf sie ausüben wollten, antworteten 60 Prozent „egal“, 15 Prozent nannten eine Anstellung bei dem Tierfuttermittelhersteller als Traumjob.

Die Stadt stellte einen irakischen Dolmetscher ein, bot Deutschkurse in den Familienzentren an und ließ eine DVD produzieren, die Analphabeten die Hilfsangebote für Kinder näherbrachte. An der Inselschule gab es zeitweise mehr spezielle Vorbereitungsklassen als normale Grundschulklassen, weil 200 Kinder unterrichtet werden mussten, die aus einem fremden Kosmos kamen, der weit hinter unserer Zeit liegt. „Diese extrem bildungsbenachteiligte Migrantengruppe stellte uns vor eine bisher unbekannte Herausforderung“, sagt Anita Gondek.

Die jesidischen Einwanderer sind zumeist unauffällig, bescheiden, lernwillig, und ihr Kinderreichtum könnte ein Segen für die überalterte deutsche Gesellschaft sein. Sie geben sich oft mit anspruchslosen Tätigkeiten zufrieden, schicken ihren männlichen Nachwuchs, sobald es geht, zum Geldverdienen in ein Schnellrestaurant oder in eine Reinigungsfirma. „Viele von ihnen empfinden ihr karges Einkommen als ausreichend“, sagt Anita Gondek.

Der Austausch gestaltet sich mitunter schwierig. Es gibt zwar inzwischen einen jesidischen Kulturverein in Pforzheim, aber wer dessen aktueller Vorsitzender ist, hat die Integrationsbeauftragte nicht herausgefunden: „Die Stadt würde gerne einen intensiveren Dialog führen, aber wir stoßen mit unseren Bemühungen an Grenzen.“

Die Flucht zu den Glaubensgeschwistern

Etwa 13 Millionen Menschen sind vor den Bürgerkriegen im Irak und Syrien geflohen. Im Laufe dieses Jahres werden in Deutschland mehr als 200 000 Asylanträge gestellt. Darunter sind Tausende Jesiden, die vermutlich dorthin wollen, wo bereits Tausende ihrer Glaubensgeschwister leben: nach Pforzheim. „Wir können den Zuzug nicht steuern“, sagt Anita Gondek. „Wenn es so käme, müssten wir erneut versuchen, das Beste aus der Situation zu machen.“

Es besteht Grund zur Hoffnung, dass die Jesiden von alleine mit mancher Tradition brechen, die nicht in eine freie Gesellschaft passt. Aus Celle und Oldenburg, wo sich bereits während der ersten Einwanderungswelle in den 1960er Jahren große Gemeinschaften bildeten, ist zu hören, dass sich junge Jesidinnen zunehmend nicht mehr von ihren Vätern vorschreiben lassen, wen sie heiraten sollen. „Ich glaube, dass sich die Zuwanderer aus dem Irak auch in Pforzheim mit der Zeit verändern werden“, sagt Anita Gondek.

Im November 2010 wurde die 18-jährige Arzu Ö. im westfälischen Detmold von ihrem Bruder umgebracht, weil sie einen Russlanddeutschen liebte. Ihre Familie gehört zu den Jesiden. Kurz darauf wurde die 13-jährige Souzan B. im niedersächsischen Stolzenau von ihrem Vater erschossen. Auch Ali B. ist Jeside. Seine Tochter tötete er, weil sie ein Leben in Freiheit wollte.

Die älteste Tochter des Pforzheimers Ahmed Kurt ist 14 Jahre alt. Er versichert, dass er keinen Jesiden kenne, der die sogenannten Ehrenmorde nicht verurteile, und dass alle jesidischen Eltern wollten, dass es ihre Kinder einmal besser haben als sie selbst. Im Irak könnten sie dieses Ziel nicht erreichen, sagt Kurt. Jahrhundertelang seien die Jesiden von der muslimischen Mehrheit diskriminiert worden, nun drohe ihnen der Völkermord durch den IS. „Wir wollen nur in Frieden leben.“

Schätzungsweise 80 000 Jesiden haben bereits in Deutschland eine neue Heimat gefunden – die genaue Zahl ist nicht bekannt, weil Zuwanderer nach dem Herkunftsstaat registriert werden, nicht nach der Religion. Es werden stetig mehr. Wenn die Jesiden in Städten wie Pforzheim ihren Frieden finden wollen, werden sie sich verändern müssen: Von einer Gemeinschaft, deren Überlebensstrategie die Abkapslung ist, hin zu einer, die den Spagat zwischen religiösen Traditionen und kultureller Offenheit findet.

Am Freitag ist Ida Ezi, der wichtigste Feiertag der Jesiden, von der Bedeutung vergleichbar mit Weihnachten. Normalerweise wird für dieses Fest zur Sonnenwende und zu Gottes Ehren ein großer Saal gemietet. Eine Volksmusikgruppe spielt, es wird viel gegessen, gesungen und getanzt. In diesem Jahr ist alles anders. Die Gedanken von Ahmed Kurt, Hassan Dnanie, Khairi Blasini, ihren Familien und Freunden sind bei den Glaubensgeschwistern, die in den Flüchtlingslagern frieren oder sich im Sindschar-Gebirge vor den IS-Milizen verstecken. Und sie denken an Fawaz, der mit 21 Jahren erschossen wurde, weil er seine nordirakische Heimat nicht verlassen hatte.