Land auf, Land ab scheint es derzeit kaum einen Bürgermeister zu geben, der nicht von Belastungsgrenzen durch die hohe Zuwanderung nach Deutschland spricht. Doch ausgerechnet ein CDU-Oberbürgermeister tanzt aus der Reihe: Stephan Neher, Rathauschef in Rottenburg am Neckar (Kreis Tübingen). Seit 2008 hat der 49-Jährige in der Bischofsstadt das Sagen – und vertritt Positionen, die eher weniger zur aktuellen Parteilinie in der Migrationspolitik passen.
Landrat: „Auch Rottenburg wird an seine Grenzen kommen“
„Es werden derzeit nur die gehört, die klagen. Ich kenne viele Kollegen, die wie wir in Rottenburg nicht in einer Überforderungssituation stecken“, sagt Neher und führt die Stadt Böblingen als Beispiel an. „Es liegt an der Einstellungsfrage, insbesondere der Bürgermeister. Will ich dieses Thema bearbeiten oder will ich es nicht?“ Er habe den Eindruck, dass vielen die Situation derzeit entgegenkomme, um „ihre tatsächliche Überzeugung zum Ausdruck zu bringen.“
In seiner Stadt habe man die Lage bislang gut im Griff, fast 1800 Geflüchtete leben derzeit in der 44 000-Einwohner-Stadt, man habe noch Kapazitäten. Weniger optimistisch zeigt sich der Landrat im Kreis Tübingen, Joachim Walter: „Auch Rottenburg wird an seine Grenzen kommen“, prophezeit der CDU-Politiker. Die Stadt habe zwar bei den Menschen aus der Ukraine 173 mehr als nötig aufgenommen, jedoch bei den Flüchtlingen aus anderen Ländern 24 ihnen zugewiesene Personen nicht unterbringen können. Dazu die Reaktion aus Rottenburg: „Es ist richtig, dass wir in diesem Jahr noch 24 Menschen aufzunehmen haben, um die Quote zu erfüllen. Aber das werden wir auch tun.“
Ein älterer Herr auf dem Marktplatz: „Hier haben wir keine Probleme“
Walter unterstellt Neher eine „zu idealistische Sicht“ auf die aktuelle Lage in den Städten und Gemeinden. Es liege nicht an der Einstellung einzelner Bürgermeister, sondern an den zu hohen Flüchtlingszahlen. „Die Akzeptanz in der Gesellschaft ist auch nicht mehr da, die Systeme überlastet“, klagt Walter.
Die Rottenburger Bevölkerung scheint aber zumindest bislang noch mitzuziehen: Am Marktplatz trinken zwei ältere Herren Kaffee, einer berichtet: „Es gibt wirklich Gemeinden, die überfordert sind, aber hier haben wir keine Probleme.“ Zwei junge Mütter, die mit Kinderwagen unterwegs sind, bestätigen diesen Eindruck. Eine der beiden berichtet von Flüchtlingen in ihrer Nachbarschaft: „Das klappt gut, da ist die Stadt hinterher, man kümmert sich. Es wurde schnell reagiert, als die Geflüchteten nach Rottenburg kamen.“
Mehr als 100 Wohnungen für Geflüchtete angemietet
Diese schnelle Reaktion führt auch OB Neher als einer der Gründe an, warum Rottenburg die Flüchtlingssituation bisher gut meistert: „Wir haben nie darauf gewartet, ob es irgendein Förderprogramm gibt“, berichtet der Rathauschef. So habe man beispielsweise nach dem Kriegsbeginn in der Ukraine im vergangenen Jahr innerhalb von vier Wochen eine Schule für ukrainische Geflüchtete eröffnet – mit ehrenamtlichen und pensionierten Lehrern.
Rottenburg ist ins Risiko gegangen: Die Kosten dafür wurden weder vom Land noch vom Bund erstattet. Am Ende wurde die Interimsschule über Spenden finanziert. „Ich kenne Kollegen, die warten zuerst, was es an Geldern gibt – und dann ist die Reaktionszeit manchmal zu lange“, sagt Neher. Rottenburg habe aber auch beim Wohnraum schnell gehandelt: Inzwischen seien mehr als 100 Wohnungen für Geflüchtete angemietet, seit 2017 baue man jährlich 30 Sozialwohnungen.
Rottenburger OB Neher: „Boris Palmer ist fast allergisch gegen mich“
„Wenn man da lange wartet, um zu schauen, wie es sich entwickelt und woher das Geld kommt, ist es logisch, wenn man heute nicht genügend Wohnraum hat“, so Neher. Der Oberbürgermeister räumt zwar ein, dass es sich manchmal auch um „Zufälle und glückliche Umstände“ handele, wie etwa die Unterbringung von Geflüchteten in einem ehemaligen Kloster. Doch er betont: „Ich würde nicht ausschließen, dass es das in anderen Städten auch gibt.“ Man müsse mit Kooperationspartnern ins Gespräch kommen. In Rottenburg könne er sich auf hilfsbereite Bürger verlassen: „Die Leute wollen mit uns die Aufgabe bewältigen.“
Unmut für seine offensive Willkommenskultur erreiche ihn höchstens im Internet oder von seinem Tübinger OB-Kollegen Boris Palmer, der ein paar Kilometer weiter im Rathaus sitzt und eher für seine migrationskritischen Positionen bekannt ist: „Ich treffe ihn öfter, er ist fast allergisch gegen mich und sagt, ich sei der einzige, der diese Position vertritt“, erzählt Neher. Rottenburg mache das gut, Nehers christliches Menschenbild sei eine gute Grundlage, lobt Palmer, mahnt jedoch: „Ich halte es nicht für dauerhaft tragfähig, ich bin der Ansicht, dass das eine Überforderung der Kommunen und der Gesellschaft darstellt.“
Neher warnt vor einem weiteren Erstarken der AfD
Neher hingegen möchte nichts von Überforderung hören: „Ich bin mal Oberbürgermeister geworden, weil Aufgaben mich herausfordern und weil es dann erst richtig Spaß macht – und nicht, weil ich irgendwas gesucht habe, wo ich überfordert bin“, sagt er und warnt vor der Gefahr, die davon ausgehe: „Wenn wir immer davon sprechen, dass die derzeitige politische Führung überfordert ist, vom Bund übers Land bis zu den Kommunen, dann verstehe ich jeden Bürger, der ausweicht und eine Alternative sucht.“ Hierzulande stärke das deshalb vor allem eine Partei: die AfD.