Migration in Stuttgart Als die „Gastarbeiter“ in die Politik gingen

Sie kamen, um die Wirtschaft der jungen Bundesrepublik in Schwung zu halten: „Gastarbeiter“. Vor 50 Jahren hat Antonio Maspoli in Stuttgart ein Emigriertenparlament eröffnet. Die Gewerkschaften beäugten die Entwicklung kritisch.
Stuttgart - Ungelernte Arbeitskräfte, die angeworben wurden, um die Wirtschaft der jungen Bundesrepublik in Schwung zu halten – so wird die „Generation Gastarbeiter“ der 1960er und 1970er Jahre im historischen Gedächtnis verbucht. Zwar hatte das berühmte und etwas überstrapazierte Zitat von Max Frisch aus dem Jahr 1965 („Man hat Arbeitskräfte gerufen und es kommen Menschen“) schon früh die Runde gemacht, aber dass diese „Menschen“ auch politisch aktive und selbstbewusste Akteure waren, ist heute noch kaum bekannt.
40 000 Arbeitnehmer beteiligten sich an der Wahl
Der Blick auf eine Initiative aus dem Jahr 1964 zeigt, wie Migranten in Baden-Württemberg ihre gesellschaftliche Teilhabe selbst in die Hand nahmen: Am 4. Mai vor 50 Jahren vermeldete die Stuttgarter Zeitung, dass zwei Tage zuvor „in Stuttgart ein ,Emigriertenparlament‘ ins Leben gerufen“ worden war. Eingeladen ins Stuttgarter Gewerkschaftshaus hatte Antonio Maspoli als Vorsitzender der Union degli Emigrati in Germania (U.E.G.), einer, so würde man heute sagen, Migrantenselbstorganisation, die im April 1964 im Raum Stuttgart unter den ausländischen Arbeitskräften Wahlen für das erste Emigrierten-Parlament auf deutschem Boden durchgeführt hatte. Nach Medienangaben gingen damals rund 40 000 Arbeitnehmer aus Italien, aus Spanien und aus Portugal an die Urnen.
Vor 33 gewählten Delegierten, vor Gewerkschaftsvertretern, dem Regierungsdirektor Uhlig vom Arbeitsamt Stuttgart und dem italienischen Vize-Konsul Napolitano hat Antonio Maspoli in der Eröffnungsrede am 2. Mai 1964 die Richtung des neuen Organs vorgegeben. Der Emigrierte dürfe nicht mehr die Rolle des „toten Mannes“ spielen, „denn wir glauben berechtigt zu sein, uns nicht nur für Arbeiter, sondern auch für Bürger zu halten und als solche angesehen zu werden“. Weiterhin vertrat er „die Überzeugung, dass ein wesentlicher Teil der Probleme, die gemeinhin als Probleme der Emigrierten bezeichnet werden, die gleichen Probleme sind, wie sie die Gesellschaft einer beliebigen Gegend oder eines Landes hat“.
„Selbstständiger Aufschwung der Emigrierten“
Noch Jahrzehnte vor den Debatten über eine europäische Verfassung stellte Antonio Maspoli am Beispiel des Arbeiters den europäischen Bürgergedanken in den Vordergrund: „Der Emigrierte ist ein Arbeiter aus Europa und für Europa; und Europa ist sein Land! Dies ist einer unserer Leitsprüche. Wir sagen, dass wir unter ,für Europa‘ nicht nur das Europa der Industrie, der Höchstproduktion, der Mühen und Opfer verstehen, sondern auch das Europa der Rechte, der demokratischen Freiheit, des Teilhabens an Kenntnissen und Wohlstand und ganz besonders das künftige Europa, das einig, aber auch frei und für alle gleich sein muss.“
Die U.E.G. und das Parlament verstanden sich als „eine Vereinigung von Emigrierten, die sich zur Urheberin eines selbstständigen Aufschwungs der Emigrierten machen will“ und verwahrten sich gegen eine Hilfe, die „erkennen lässt, dass der Emigrierte eine Art Entrechteter ist, ein unglücklicher Schwächling, der nicht fähig ist, auch nur das kleinste Hindernis zu überwinden“.
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