Eine verarmte Stadt in der Slowakei ist für Ordensschwester Margret zum Vorort von Stuttgart geworden. Viele Roma aus der bitterarmen Region kommen zu ihr in die Franziskusstube zum Frühstück – bevor sie ihre Plätze suchen, um zu betteln oder Straßenzeitungen zu verkaufen.

Stuttgart - Der kleine Ort Hodejov im Süden der Slowakei ist tausend Kilometer von Stuttgart entfernt. Für Schwester Margret aber ist die Stadt an der Grenze zu Ungarn längst zum Vorort von Stuttgart geworden. Viele Roma aus der bitterarmen Region kommen zu ihr in die Franziskusstube zum Frühstück, bevor sie ihre Plätze suchen, um zu betteln oder Straßenzeitungen zu verkaufen. Auch die 23 Jahre alte Jeanette kam deshalb nach Stuttgart. Die junge Frau war hochschwanger, hier brachte sie ihr Kind zur Welt, das siebte.

 

Noch am Tag der Geburt sitzt die junge Frau bei Schwester Margret in der Obdachloseneinrichtung unter der Stuttgarter Paulinenbrücke. „Ich brauche Geld, um meine Kinder in der Slowakei zu versorgen“, erzählt sie und fasst sich an den schmerzenden Bauch. Ihr Mann hat wie die meisten Männer in Hodejov keine Arbeit. „Wenn er nach Stuttgart zum Betteln kommt, bringt er kein Geld nach Hause“, sagt die 23-jährige Roma. Also reist sie selbst regelmäßig für zwei, drei Wochen nach Stuttgart und fährt wieder nach Hodejov, wenn sie ein paar hundert Euro zusammen hat. Diesmal kommen die Wehen dazwischen.

Zu neunt in einem Raum

Jeanette macht sich an diesem Samstagvormittag trotz der Schmerzen noch einmal auf zum Rotebühlplatz. Zum Betteln kommt sie allerdings nicht mehr. Schwester Margret wählt den Notruf 112, weil sie verhindern will, dass das Kind womöglich in einer Unterführung geboren wird. Wenige Minuten nach dem Anruf fahren Feuerwehr, Notarzt sowie ein Rettungswagen vor. Knapp drei Stunden später bringt Jeanette in der städtischen Frauenklinik ihren jüngsten Sohn Robert zur Welt.

Die Slowakin hat Erfahrung darin, ihre Kinder in fremden Ländern zu gebären: ihre zweitjüngste Tochter wurde vor anderthalb Jahren in Wien geboren. Auch dort war die 23-Jährige zum Betteln.

Jeanette ist Teil einer Gruppe von Slowaken, die regelmäßig nach Stuttgart kommen. Neben Stuttgart gehören auch Wien und Linz zu ihren Zielen. „Die meisten im Ort leben direkt oder indirekt von den Touren nach Deutschland und Österreich“, erzählt Schwester Margret, die im vergangenen Jahr nach Hodejov gereist ist, weil sie wissen wollte, woher die Menschen stammen, die bei ihr Hilfe suchen. Gefunden hat sie einen Ort, in dem überwiegend Roma in bitterer Armut leben, teils ohne Strom und Wasser, teils wie Jeanette und ihre Familie, zu neunt in nur einem Raum. „Ich habe den halben Ort gekannt“, sagt die Franziskanerin, die in den nächsten Monaten wieder in die Südslowakei reisen will, wenn sie genügend Spender gefunden hat. „Man muss den Menschen dort helfen, sonst bleibt ihnen keine Wahl, als zu uns zu kommen“, sagt die Stuttgarter Ordensfrau, die gerade die Erfahrung macht, dass es schwierig ist, für Roma-Projekte Unterstützer zu finden. Immerhin entsteht gerade mit von ihr gesammelten Geldern ein Spielplatz in Hodejov.

Rivalitäten zwischen Hilfesuchenden

Die Ordensschwester macht keinen Hehl daraus, dass der Umgang mit den Zuwanderern auf Zeit schwierig sein kann. „Es gab Tage, da hatte ich eine Gruppe Slowaken, eine Gruppe Bulgaren und einige Polen, die lautstark Hilfen einforderten. Unsere alteingesessenen Obdachlosen bleiben da auf der Strecke.“ Auch seien die Erwartungen einzelner über die Maßen hoch: „Da wird nach Markenkleidung und teuren Sportschuhen in allen Größen gefragt“, erzählt Schwester Margret. Die Ordensfrau gibt jedoch nur heraus, was dem Betreffenden auch passt und was gebraucht wird. „Ich will nicht, dass die Leute Handel mit den Kleidern treiben.“

Ähnliche Erfahrungen mit dieser Gruppe von Migranten beschreibt Sarah Heinrich von der Stuttgarter Bahnhofsmission. „Unsere Einrichtungen sind verstopft“, sagt sie. Das hat Folgen für Verhältnisse in der Einrichtung. „Es kommt zu Rivalitäten zwischen den Hilfesuchenden“, erzählt Heinrich und fügt hinzu: „Wir sind in vielen Fällen hilflose Helfer.“

Schwester Magret erwartet von den Besuchern, dass sie sich zumindest an Regeln halten und macht dies auch deutlich. Im Zweifel wird Hausverbot erteilt. Einmal hat sie die Franziskusstube kurzerhand einige Tage geschlossen, weil sie das Gefühl hatte, dem Andrang der Zuwanderer nicht anders Herr zu werden. „Danach tauchten die Zuwanderer nicht mehr in großen Gruppen auf, sondern wie gefordert immer nur zu zweit oder dritt.“

Nachts schlafen sie im Park

Auch die 38 Jahre alte Angela kommt seit einem Jahr immer wieder nach Stuttgart, ihre drei Kinder lässt sie bei der Mutter. In ihrem Heimatort Hodejov hat die alleinerziehende Frau gesehen, dass es den Landsleuten, die immer wieder nach Deutschland fuhren, besser erging als ihr. Also hat sie sich auch auf den Weg gemacht, sich in der Stuttgarter Innenstadt auf die Straße gesetzt und die Hand aufgehalten. „Das habe ich nur ein paar Tage ausgehalten“, erzählt sie. Angela hat Zeitungsverkäufer gesehen und sich ihnen angeschlossen. Jetzt verkauft auch sie die Obdachlosenzeitung Trott-war und verdient ihre 300 bis 400 Euro. Nachts schläft sie im Park, gemeinsam mit anderen Slowaken. Seither ist ihr Leben in Hodejov leichter und sie kann den Kindern die Fahrt zur weiterführenden Schule bezahlen. „Bei uns gibt es keine Arbeit. Von 60 Euro Sozialhilfe aber kann ich nicht leben“, sagt Angela. Seit drei Monaten begleitet sie ihr Bruder Ladislav, der drei Kinder zu versorgen hat.

Bei der Obdachlosenzeitung Trott-war sind inzwischen von den 135 Verkäufern 29 Südosteuropäer, die meisten davon Slowaken. Helmut H. Schmid, der Geschäftsführer der Straßenzeitung, stellt fest: „Die meisten Zuwanderer sind deutlich motivierter als unsere alteingesessenen Verkäufer, weil sie ihre Familien versorgen müssen.“ Seit die Slowaken für Trott-war arbeiten, seien die Verkaufszahlen gestiegen, berichtet Schmid. Das Problem sei nur: „Unsere slowakischen Verkäufer bringen ständig neue Leute mit. Wir können aber nicht alle unterbringen.“

Jeanette will weiter betteln

Jeanette denkt nicht daran, Obdachlosenzeitschriften zu verkaufen, sie wird weiter betteln. Fürs Erste ist sie mit ihrem jüngsten Kind im Reisebus nach Hodejov zurückgefahren. In ein paar Wochen wird sie wohl wieder in Stuttgart sein. Hans-Jörg Longin, der beim Stuttgarter Ordnungsamt für die Bettler zuständig ist, hofft, dass sie dann ihr Baby nicht mitbringen wird. „Wir erleben leider immer wieder, dass die Zuwanderer ihre Kinder einsetzen.“ Schwester Margret findet dieses Vorgehen geradezu empörend. „Unsere Gesellschaft darf es nicht akzeptieren, dass Kinder bettelnd auf der Straße sind.“

Bis zu Jeanettes Rückkehr dürfte auch geklärt sein, wer für die Krankenhauskosten von 2700 Euro und den Rettungseinsatz aufkommen wird. Stefan Spatz, der stellvertretende Leiter des Sozialamts, stellt eine Kostenübernahme in Aussicht. „Wir sind verpflichtet, in solchen Notfällen eine Versorgung zu übernehmen. Das tun wir selbstverständlich auch.“ Einen Zugang zum deutschen Sozialsystem haben die Armutszuwanderer in der Regel aber nicht, erklärt er. Was ihnen die Stadt gewährt, ist eine Notübernachtung im Winter und eine Rückfahrkarte in die Heimat. Was Stefan Spatz noch sagt: „In Stuttgart ist die Armutszuwanderung längst nicht so ein Problem wie in anderen Großstädten.“