In den USA wirkt der Tod Osama bin Ladens wie ein historischer Befreiungsschlag. In vielen Städten feierten die Menschen ausgelassen.

Stadtentwicklung & Infrastruktur: Andreas Geldner (age)

Washington - Es ist fast Mitternacht, als im Ostflügel des Weißen Hauses der US-Präsident den Satz ausspricht, dem die ganze Nation seit Stunden entgegenfiebert, denn längst kursierten Gerüchte. "Heute Abend kann ich dem amerikanischen Volk und der Welt die Nachricht verkünden, dass die Vereinigten Staaten eine Operation durchgeführt haben, die Osama bin Laden, den Anführer von Al-Qaida, getötet hat", sagt Barack Obama. "Das gerechte Urteil ist vollstreckt."

 

Ganz ohne sichtbare Regung, sachlich-nüchtern verkündet Obama den historischen Erfolg. Nur bei der Erinnerung an das von Amerikanern durchlittene Leid wird er emotional. Ein strahlender Septembertag sei vor fast zehn Jahren vom schlimmsten Angriff auf das amerikanische Volk verdunkelt worden. "Lasst uns heute Nacht an den Geist der Geschlossenheit zurückdenken, der uns am 11. September 2001 beherrscht hat", sagt Obama. Er wisse wohl, dass dieser brüchig geworden sei, schiebt er vielsagend hinterher.

Das wird Obamas Bild verändern

Immer wieder hat dieser Präsident die nationale Einheit beschworen. Doch allzu häufig ist sie ihm angesichts der Feindseligkeit seiner Gegner entglitten. Vor wenigen Tagen musste er sogar seine Geburtsurkunde aus der Schublade ziehen, weil ihn fast die Hälfte der republikanischen Parteigänger nicht einmal für einen Amerikaner gehalten hatte. Doch beim Kampf gegen den Terror hat Obama Wort gehalten. Schon im Wahlkampf hatte er versprochen, dass ihn nichts von der Jagd nach bin Laden ablenken werde. Für seine Ankündigung, dass er notfalls US-Soldaten nach Pakistan schicken werde, hatte ihn selbst der republikanische Präsidentschaftsrivale John McCain gerügt. Einmal im Amt hat Obama dies so nicht mehr wiederholt.

Das Verhältnis zum wackligen Verbündeten Pakistan war schwierig genug. Die Tatsache, dass bin Laden im Herzen dieses Landes so lange unentdeckt blieb, erscheint merkwürdig. Doch der US-Präsident hat die Kommandoaktion, die dem Terroristen das Leben kostete, mit einer Härte durchziehen lassen, die ihm viele nicht zugetraut hätten. Das wird sein Bild verändern. Obama steht nun da als einer, der den Mut zu einer schwierigen Entscheidung hatte. "Ich" sagt er bei seinem patriotisch gefärbten Auftritt eher selten. An einer Stelle tut er es doch: "Kurz nachdem ich mein Amt übernommen hatte, wies ich Leon Panetta, den Direktor der CIA, dazu an, die Tötung oder die Gefangennahme von Osama bin Laden zur allerhöchsten Priorität in unserem Krieg gegen Al-Qaida zu machen."

Obama ist ein großes Risiko eingegangen

Die diskrete Spitze gegen seinen Vorgänger George W. Bush, der sich im Irak verzettelte, ist nicht zu überhören. Bush taucht als Kronzeuge erst auf, als Obama beteuert, dass der Antiterrorkampf der USA kein Krieg gegen den Islam sei. Mit jedem Detail, das im Laufe der Nacht zur Aktion der amerikanischen Elitesoldaten durchsickert, wird klar, welches Risiko der US-Präsident mit der Aktion eingegangen ist. Die hohen Mauern, die Sicherheitsanlagen und die Lage von Osama bin Ladens Versteck in einem Vorort der Stadt Abbottabad hätten die Operation außerordentlich gefährlich gemacht, sagte ein Mitarbeiter des Weißen Hauses in einem Hintergrundgespräch.

Über Jahre hatten die US-Sicherheitsbehörden immer wieder betont, dass es zu Osama bin Laden keine heiße Spur gebe. Im September vergangenen Jahres schien sich das endlich zu ändern. Auf einmal fügten sich Bruchstücke von Informationen zusammen, die die USA über Jahre hinweg gesammelt hatten. Dazu gehörten nach Angaben des Weißen Hauses auch Details über einen Kurier, mit dessen Hilfe bin Laden seine Botschaften übermittelte. Dieser Mittelsmann habe dank der Aussagen von Gefangenen im Lager GuantÖnamo auf Kuba identifiziert werden können. "Wir waren allerdings nicht in der Lage, genau zu lokalisieren, wo der Bote und seine Brüder lebten", hieß aus der US-Regierung.

Osama ist durch Kopfschuss gestorben

Vier Jahre nach der Identifikation führte die Spur zu einem auffällig großen und von der Außenwelt abgeschotteten Gebäudekomplex unweit der pakistanischen Hauptstadt. Weder Telefonleitungen noch ein Internetanschluss waren dorthin gelegt worden. Die Bewohner schickten nicht einmal ihren Müll nach draußen, sondern verbrannten ihn selbst. Dreieinhalb bis fünfeinhalb Meter hohe, mit Stacheldraht bestückte Mauern bildeten fast unüberwindbare Barrieren. Doch vor allem passte die Zusammensetzung einer der Familien die dort lebten, perfekt zu dem, was man über bin Ladens Verwandtschaft wusste.

Trotzdem blieb das Weiße Haus vorsichtig. Nur der engste Kreis um den Präsidenten war eingeweiht. Seit Mitte März habe sich Barack Obama fünfmal mit seinen Sicherheitsberatern getroffen, um die Details der Aktion auszuarbeiten - bis der Präsident dann am Freitagmorgen, dem 29. April, grünes Licht für den Angriff gab. Seine Tour in das vom Tornado verwüstete Alabama und zum letztlich abgeblasenen Spaceshuttle-Start in Cape Canaveral lieferte dafür die perfekte Deckung. Am Sonntag, als die Aktion in Pakistan schon angelaufen war, schickte der Präsident den ihn umgebenden Reporterpulk nach Hause - und spielte vermeintlich in aller Seelenruhe Golf. Osama bin Laden habe sich bei der Festnahme gewehrt und sei durch einen Kopfschuss gestorben, heißt es von amerikanischer Seite.

Vier weitere Menschen starben

Das lässt sich nicht nachprüfen. Washington will den Eindruck vermeiden, als sei die Tötung von vorneherein geplant gewesen. Vier weitere Menschen starben bei der vierzigminütigen Aktion: Vermutlich zwei Kuriere der Terroristen und ein Sohn bin Ladens sowie eine Frau, die als menschliches Schutzschild missbraucht worden sei. Das sagen jedenfalls die Amerikaner - und verweisen darauf, dass ansonsten keine Unbeteiligten getroffen worden seien.

Dass ein US-Hubschrauber zurückblieb und von den Elitesoldaten gesprengt werden musste, spricht für die Dramatik der Aktion. Von einem "mechanischen Problem" sprach ein Mitarbeiter des Weißen Hauses. Nur Minuten später behauptete ein anderer: "Es gab kein solches Problem". Das Bild eines liegengebliebenen Hubschraubers weckt wohl Assoziationen an die unter dem demokratischen Präsidenten Jimmy Carter im Jahr 1980 missglückte Befreiung der Geiseln in der US-Botschaft in Teheran. Damals scheiterte die Mission, weil drei Helikopter in der iranischen Wüste versagten. Ein weiterer kollidierte mit einem Tankflugzeug - dabei starben acht US-Soldaten. Dieses Mal kamen alle Amerikaner heil zurück und brachten auch bin Ladens Leiche mit.

Ein Weltbild zerbröselt

Wenn das lange Warten auf die Rede des Präsidenten eine die Spannung steigernde Inszenierung gewesen sein sollte, dann ist sie gelungen. Eine Stunde vor Obamas Auftritt hatte sich der CNN-Reporterveteran Wolf Blitzer im Fernsehen fast auf die Zunge beißen müssen, um nicht auszusprechen, was viele bereits vermuteten, als Obama an einem Sonntagabend eine Erklärung zur nationalen Sicherheit ankündigte. "Es kann nicht Libyen sein, dafür ist die Nato zuständig", sagte Blitzer. Auf dem Konkurrenzsender MSNBC war der Damm zu diesem Zeitpunkt schon gebrochen. Zum ersten Mal fiel der Name bin Laden. Und Minuten später: "Bin Laden ist tot."

Anderswo zerbröselte vor laufender Kamera ein Weltbild. Der konservative Nachrichtensender Fox News, der Barack Obama normalerweise nahezu 24 Stunden jeden Tag zum Sicherheitsrisiko für die USA erklärt, hatte sichtlich Mühe, mit dem Geschehen Schritt zu halten. "Wenn das wahr ist", sagte Moderator Geraldo Rivera - und verstummte. Vielleicht liege es ja daran, dass der erfolgreiche Afghanistan-General David Petraeus nun bald Chef der CIA sei? Selbst nachdem Obama gesagt hatte, dass die Militäraktion am Sonntag stattfand, behauptete das Laufband auf dem Sender noch, dass bin Laden schon eine Woche tot sei. Ein Lob für den Präsidenten kam dem Moderator nicht über die Lippen. "Al-Qaida wird seine Attacken verstärken. Wir werden mehr Terrorangriffe auf der Welt bekommen", sagte er.

Menschen feiern ausgelassen

Doch die Angst ist der Freude gewichen. Jubelnde Menschen strömten zum Zaun des Weißen Hauses, auch in anderen Städten wurde ausgelassen gefeiert. Die Rufe "USA, USA, USA" übertönten alle vorsichtigen Kommentare. Minute um Minute wurde die Menge in Washington größer. Wer sich später in der Nacht am Lafayette-Park gleich gegenüber dem Weißen Haus vorzukämpfen versuchte, stieß auf Tausende von Menschen. Erstaunlich viele hatten sich eine amerikanische Fahne organisiert. Die meisten dürften Obama-Fans gewesen sein; nur ein paar Bush-Cheney-Aufkleber waren zu entdecken. Doch Parteien gab es keine mehr. Die Nationalhymne und patriotische Gassenhauer wurden mehr gegrölt als gesungen - eine Stimmung wie nach dem Sieg einer US-Nationalmannschaft.

Der Tod des Staatsfeindes Nummer eins lässt die Amerikaner aber nicht nur feiern. Er liefert auch Stoff für Verschwörungstheorien. Kaum war der Leichnam von Osama bin Laden nach Angaben der US-Regierung im Meer versenkt worden - angeblich unter Beachtung muslimischer Vorschriften -, wurde schon spekuliert über die Identität des Toten. Dass Washington beteuerte, bin Laden sei durch einen Vergleich seiner DNA mit einer von einem engen Verwandten in Saudi-Arabien erhaltenen Genprobe zweifelsfrei identifiziert worden, kann Obamas verbissene Gegner nicht erschüttern. Auch nicht dass kurz vor seiner Tötung angeblich seine Ehefrau seine Identität preisgegeben hat. "Das stinkt zum Himmel!", lautete die erste Reaktion im Internetforum der rechtspopulistischen Tea-Party-Bewegung: "Man sollte nie glauben, was Obama erzählt."