Vor drei Jahren wurden in Chile 33 Minenarbeiter verschüttet – ihre Bergung nach 69 Tage war spektakulär. Was als Wunder von San José gefeiert wurde, hat sich für etliche der Männer als Albtraum entpuppt. Ihr Leben geriet aus der Bahn.

San Jose - Alles auf der Welt würde er dafür geben, sagt Edison Peña, wenn er abends einschlafen und am nächsten Morgen als der Edison Peña aufwachen könnte, der er vor dem 5. August 2010 war. „Ich habe in der Zeit danach alles verloren, meine Frau, meine Tochter, und zum Schluss die Menschen, die immer für mich da waren, meine Freunde“, klagt Peña gegenüber der Lokalzeitung, die ihn vor ein paar Wochen in Ventanas, einem Fischerdorf nordwestlich von Santiago, auftrieb.

 

Vor einem Jahr hat er so etwas wie ein neues Leben begonnen. Der 37-Jährige zog sich in die Isolation zurück. Er wohnt alleine in einem kleinen Haus neben dem Leuchtturm von Ventanas. Er hält kaum Kontakt zu den Einheimischen. Wenn er den Strand entlangrennt, um sich fit zu halten, laufen seine zwei Hunde mit.

Edison Peña ist einer der 33 Bergleute, die am 5. August 2010 in einer Mine in der Atacama-Wüste verschüttet und 69 Tage später aufsehenerregend gerettet wurden. „Wenn dir klar wird, dass du womöglich am nächsten Tag stirbst, dann lernst du, jede Sekunde deines Lebens wertzuschätzen“, erkannte er. Aber als die Todesgefahr vorbei war, ging er umso verschwenderischer damit um. „Ich habe eine Menge Scheiß gemacht, ich war zweimal wegen Alkohol und Drogen in der Entzugsklinik“, resümiert er, „ich verstehe auch nicht, warum mein Leben so voller Hindernisse war.“

Die Katastrophe ist in Chile fast vergessen

Die 33 Bergleute, deren Schicksal im Herbst 2010 die ganze Welt gebannt verfolgte, sind drei Jahre später so gut wie vergessen. Und so fatal eng sie die 69 Tage lang in 700 Meter Tiefe zusammengeschweißt waren – heute sind sie als Gruppe zerstreut und zerstritten. Jeder ging seinen eigenen Weg, sie sehen sich kaum noch. Neid, Missgunst und Misstrauen kamen auf, viele sind arbeitslos, nicht wenige haben mit psychischen Problemen zu kämpfen.

Edison Peñas Schicksal ist in gewisser Weise symptomatisch, denn das Scheitern seiner menschlichen Bindungen steht in krassem Gegensatz zu seinem beeindruckenden Überlebenswillen. Peña hat sich in der Tiefe des Berges nicht nach dieser Rolle gerissen, aber die Medien haben sie ihm zugewiesen. Ein Verschütteter, der eisern Sport macht, der, noch bevor man ihm das gewünschte Paar Laufschuhe hinunterschicken konnte, zu rennen beginnt, trainiert, sich fit hält – bei 40 Grad Hitze und extrem hoher Luftfeuchtigkeit, immer hin und her in der Dunkelheit jener 800 Meter, auf die der Schacht begehbar war. Und dass Edison auch noch für Elvis Presley schwärmte und ihn wunderbar imitieren konnte – perfekt für die nach menschlich Anrührendem gierenden Journalisten.

Die Männer schworen nicht zu sagen, was in der Tiefe passierte

Als Chiles Präsident Sebastián Piñera am 22. August den Zettel mit der ebenso lapidaren wie sensationellen Überlebensnachricht („Wir sind okay im Schutzraum, alle 33“) vor die Kameras hielt, hatten die Bergleute schon das Schlimmste hinter sich: die Todesangst und die Ungewissheit, die Aussichtslosigkeit und die Verzweiflung. 17 Tage saßen sie, die winzigen Standardrationen im Schutzraum in noch winzigere Tagesrationen unterteilend, in 700 Meter Tiefe. 900 000 Tonnen Gestein, so die Experten später, hatten sich in zwei Einstürzen abgesenkt und den sich spiralförmig in die Tiefe windenden Stollen versperrt. Was genau in diesen Tagen geschah, so schworen die Männer, soll keiner erfahren. Dennoch wurde ausgesprochen, was auf der Hand lag. Dass sie vereinbart hatten, den aufzuessen, der als Erster stürbe.

Mit der aufwendigsten Rettungsaktion in der Geschichte des Bergbaus begann die Konstruktion des Mythos. Was den rund 2000 Journalisten, die am 13. Oktober in der eiskalten Nacht der Atacama-Wüste warteten, präsentiert wurde, waren Helden. Dabei waren die Männer Opfer eines Unfalls, der auf Schlampigkeit bei den Sicherheitsvorkehrungen der alten, für ihre Risiken bekannten Mine San José beruhte.

Die Helden des Überlebens bekämpften sich in dem Stollen

So wie Chiles Regierung über Wochen hinweg die 33 darstellte, lief alles wie am Schnürchen: Sie bildeten Gruppen, fügten sich den hierarchischen Strukturen ihres Arbeitsteams und räumten 700 Tonnen Gestein weg, das ständig aus dem Loch der Suchbohrung rieselte, das von oben her auf die Breite der Rettungskapseln erweitert wurde. Sie beteten, schrieben Briefe an ihre Familien, zeigten sich in gespenstisch-bläulichen Kamerabildern der Welt, und wenn sie gegen die Vorschriften aufbegehrten, dann war auch das nur sympathisch: Warum sollten sie nicht ein paar Zigaretten rauchen oder ein Schlückchen trinken?

„Einer hatte schon zwei Selbstmordversuche hinter sich, zwei waren manisch-depressiv, zwei schizophren, und mindestens vier waren drogen- und alkoholabhängig“, sagt der Psychologe Alberto Iturra heute, der die 33 in ihrem Schacht betreute, „und stellen Sie sich vor, was für Machtkämpfe ausbrachen bei all der Gereiztheit, der Ungewissheit, dem hohen Aggressionspotenzial.“ Iturra nennt die 33 zwar auch Helden, aber in einem anderen Sinn als dem patriotisch-schwärmerischen von damals: „Sie sind Helden des Überlebens, weil sie das hingekriegt haben.“

Der Politiker präsentierten sich als Retter

Sie hätten damals die Losung „32 kümmern sich um einen“ ausgegeben, also trotz aller Machtkämpfe auf gegenseitige Unterstützung gebaut, „und das in einer Gesellschaft, die ja normalerweise darauf aus ist, entweder Gewinner oder Verlierer zu erzeugen“. Während sie unten warteten, dass sich der Bohrer zu ihnen durchfraß, um einen gut 50 Zentimeter breiten Kanal für die Rettungskapsel zu schaffen, schlugen die Politiker oben so viel Gewinn wie möglich aus der Aktion. Der heute selten unbeliebte Piñera war damals auf dem Höhepunkt seiner Popularität, sein Bergbauminister Laurence Golborne profilierte sich als Krisenmanager und war Kandidat für die Piñera-Nachfolge, bis er vor drei Monaten über einen Skandal aus seiner Zeit als Geschäftsmann stolperte und aufgab. Iturra sagt, die Regierung habe pro Bergmann eine Zeitspanne von einer Stunde veranschlagt, viel mehr, als das Herab- und Heraufwinden der Kapsel jeweils benötigte – „die Politiker wollten sich möglichst lange vor den Kameras zeigen!“ Und dass vom Ärzteteam niemand an das Bohrloch durfte, als die Kapsel mit einem nach dem anderen oben ankam, habe denselben Grund gehabt: „Wir hätten ihnen Fernsehbilder weggenommen!“

Als die Männer oben waren, trat wieder die übliche Trennung zwischen Gewinnern und Verlierern in Kraft, und sie waren – von ihrer Herkunft, ihrer Bildung, ihrer sozialen Stellung her – eher auf der Verliererseite gebucht. Die Politik schmückte sich mit ihnen. Die Reisen, die ihnen geschenkt wurden, waren durchaus spektakulär. Nicht nur die Politik wollte ihren Ruhm ausbeuten. Edison Peña, von Beruf Elektriker, wurde vom bekannten Elvis-Imitator Jesse Garon zu einem Luxustrip nach Las Vegas eingeladen. Er plauderte mit David Letterman, gab unzählige Interviews und saß beim ZDF-Jahresrückblick bei Thomas Gottschalk auf der Couch. Zwischen umgerechnet 1300 und 36 000 Euro zahlten die Fernsehshows kurz nach der Rettung für einen Auftritt.

Nicht alle Bergleute konnten sich so gut vermarkten wie Mario

Manche bekamen gar nichts ab, weil sie zu wenig Charisma ausstrahlten, andere vermarkteten sich prächtig. Zum Beispiel Mario Sepúlveda, den die Medien schon „Super-Mario“ getauft hatten, als er noch unten war. Er produzierte die Videos aus der Unterwelt, und als er heraufkam, schien er kaum Zeit zu haben, seine Frau und seine Kinder zu umarmen, so grandios war seine Show, bei der er Präsident Piñera und dessen Frau mit Gesteinsbrocken beschenkte. Heute hält er Motivationsvorträge und bringt es fertig, auf seiner Website seine Biografie zu schildern, ohne dass die Zahl 33 vorkommt. Als wäre er alleine verschüttet gewesen.

„Das ist ein Scharlatan“, schimpft Osman Araya, einer der wenigen, denen nach der Rettung ein normales Leben gelang. Er kaufte von den 7500 Euro, die der exzentrische chilenische Millionär Leonardo Farkas jedem der Kumpel in die Hand gedrückt hatte, einen gebrauchten Lastwagen und begann einen Obst- und Gemüsehandel. Den 14 Bergleuten, die über 50 sind, gewährt der Staat eine Leibrente von rund 400 Euro.

Das Wunder von San Jose als Hollywoodstreifen

„Im Ausland ist das Interesse an ihnen wesentlich größer“, hat Alejandro Pino beobachtet, der als Spezialist für Arbeitssicherheit an der Rettung beteiligt war, „in Chile ist das Unglück nur noch eine Anekdote“. Die Einigkeit der Bergleute habe sich verflüchtigt, „das Buch, das sie schreiben wollten, haben sie nie geschrieben, und der Film wird jetzt ohne sie gedreht, aber vielleicht kriegen sie ein bisschen Geld dafür“. Wiedererkennen werden sie sich in dem Hollywoodstreifen kaum; die Gattinnen der 33 Kumpel sehen eben nicht so aus wie Jennifer López. Und dass die Hauptfigur an Mario Sepúlveda ausgerichtet wird, dürfte unter den anderen 32 auch keine Begeisterung auslösen.

Immerhin eines hat sich graduell verbessert: die Sicherheit in den Minen. „2010 hatten wir 5,6 Arbeitsunfälle je 100 Arbeiter und Jahr, nun sind es nur noch 4,05“, sagt der Experte Pino. Die Zahl der Sicherheitsinspektoren, die in den 1100 Minen der Region Atacama Stichproben machten, sei nach der Katastrophe vervierfacht worden. Jorge Castillo, der Chef des Gewerkschaftsbundes CUT in Copiapó sieht das differenzierter: „Wir haben über dem Zirkus die Chancen verpasst, die Arbeitsbedingungen grundlegend zu verändern.“ Chile sei „genauso krank wie eh und je, weil es dem alten neoliberalen Modell folgt“. Castillos Befund, dass den Reichen und den Mächtigen nicht am Zeug geflickt wird, scheint die Justiz zu bestätigen. Pünktlich zum dritten Jahrestag gab die Staatsanwaltschaft bekannt, dass sie das Ermittlungsverfahren gegen die Besitzer der Unglücksmine einstelle. Es lägen keine Anhaltspunkte für eine Mitschuld vor.