Exklusiv Angriffe oder Raub sind weitaus öfter Anlass für die Einweisung in die Psychiatrie als leichtere Straftaten. Das belegt eine Sonderauswertung der Strafverfolgungsstatistik.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Die Unterbringung von Straftätern in der Psychiatrie erfolgt zu einem „beträchtlichen Teil“ wegen schwerwiegender Delikte. Zu diesem Ergebnis ist das Stuttgarter Justizministerium bei einer Sonderauswertung der Strafverfolgungsstatistik 2012 gekommen. Insgesamt wurden danach im vergangenen Jahr 128 erwachsene Straftäter zum Schutz der Allgemeinheit nach Paragraf 63 des Strafgesetzbuchs in der Psychiatrie untergebracht, hieß es auf StZ-Anfrage.

 

Bei den zugrunde liegenden Delikten rangiert Körperverletzung nach Angaben des Ministeriums mit 50 Fällen an erster Stelle, gefolgt von Delikten gegen das Leben (22 Fälle) und Raubdelikten (21 Fälle). In 14 Fällen waren Brandstiftungsdelikte Anlass für die Unterbringung, in neun Fällen Sexualdelikte. Erheblich weniger Menschen kamen dagegen wegen weniger gravierende Delikte in die Psychiatrie: je zwei etwa wegen Betrugs, Nötigung, Sachbeschädigung, gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr oder schweren Diebstahls. Landesweit befinden sich etwa 600 Menschen auf der Grundlage des Paragrafen 63 in psychiatrischen Anstalten.

Justizministerium: ein „Fall Mollath“ ist kein Thema

Mit den Zahlen tritt das Ressort von Rainer Stickelberger (SPD) offensichtlich dem Eindruck entgegen, die Unterbringung erfolge - wie im bayerischen Fall Gustl Mollath - vielfach wegen weniger gravierender Delikte. Insbesondere die Neue Richtervereinigung (NRV) hatte in einem Schreiben an Stickelberger kritisiert, dass das Strafgesetzbuch keinen „begrenzenden Deliktskatalog“ enthalte. So komme es zur zeitlich unbegrenzten Unterbringung in der Psychiatrie auch wegen „Delikten wie Beleidigung, Nötigung oder einfacher Körperverletzung, die im allgemeinen nur mit Geldstrafen geahndet werden“.

Zugleich schrieb die NRV in ihrem Brief, auch in Baden-Württemberg gebe es Fälle, die „in ihrer Tragik und rechtlichen Bedenklichkeit“ mit dem Fall Gustl Mollath vergleichbar seien. Nähere Angaben dazu hatte die Richtervereinigung nicht gemacht, auch nicht anonymisiert. Justizminister Stickelberger hatte geantwortet, ihm seien rechtlich bedenkliche Fälle nicht bekannt. Die NRV solle entweder eine Überprüfung beim zuständigen Gericht anregen oder die Fälle dem Ministerium vorlegen; er werde sie dann an die als Vollstreckungsbehörden zuständigen Staatsanwaltschaften weiterleiten. Auf das Schreiben von Anfang Juli habe sich der Verband „bislang nicht gemeldet und entsprechend auch keine Angaben zu den Fällen übermittelt“, so eine Ministeriumssprecherin. Der NRV-Landesvorsitzende Johann Bader sagte, man habe davon abgesehen, weil sich der Minister für nicht zuständig erklärt habe. Nach einer Pressekonferenz, bei der über einzelne Fälle berichtet wurde, sei für Ende September oder Anfang Oktober eine Tagung mit Fachleuten geplant. Dazu erwäge man auch Referenten aus den Ministerien einzuladen.

Betroffene fordern eine Überprüfung ihres Falles

Aufgrund der Medienberichterstattung über den Fall Mollath wenden sich unterdessen Betroffene direkt an das Justizministerium, um eine Überprüfung ihres Falles zu veranlassen. Es handele sich um „eine Reihe von Menschen“, deren genaue Zahl man aber nicht beziffern könne, sagte die Sprecherin Stickelbergers. Jeder einzelne Fall werde daraufhin geprüft, ob eine Unterbringung vorliege und auf welcher Grundlage diese erfolgt sei. In den wenigsten Fällen ( „weniger als eine Handvoll“) sei dies der Paragraf 63. Das Ministerium hole in diesen Fällen zunächst Informationen bei der vollstreckenden Staatsanwaltschaft ein. „Sollten Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Unterbringung oder an deren Fortdauer verbleiben, würden weitere Abklärungen vorgenommen.“ Bisher, so die Sprecherin, sei dies aber nicht erforderlich gewesen. Bei Beschwerden über die Art und Weise der Unterbringung werde das Sozialministerium informiert.

Es gibt ein Eckpunktepapier zur Reform der Unterbringung

Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) hat ihre Eckpunkte zur Reform der Unterbringung nun auch an Stickelberger geschickt. Zugleich kündigte sie zeitnah einen Meinungsaustausch darüber an. Der SPD-Minister hatte das Eckpunktepapier aus Berlin in einer Stellungnahme als „durchaus diskussionswürdig“ bezeichnet. Angesichts des massiven Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht sei „jede gesetzliche Verbesserung und Klarstellung positiv zu beurteilen“, ließ er erklären.