Die Grünen zoffen wieder über die Steuerpolitik. Ministerpräsident Winfried Kretschmann will die Grünen als wirtschaftsnahe Partei positionieren. Damit folgt er einem machtpolitischen Kalkül.

Stuttgart - Die Grünen werden von einem vermögenden, dabei sozial denkenden Bürgertum getragen, das seinen Geldbeutel nicht versteckt, wenn das Gemeinwohl nach guten Gaben verlangt. So geht die Mär, die sich besonders die Südwest-Grünen gerne zu eigen machten. In einem gewissen Gegensatz dazu steht der Ausgang der Bundestagswahl 2013: Statt des erhofften Zuwachses verloren die Grünen Stimmanteile. Die 8,4 Prozent (im Jahr 2009 kamen sie noch auf 10,7 Prozent) wurden in und außerhalb der Partei als deftige Niederlage bewertet, die wiederum auf einen Distanzverlust der Grünen zum Thema Steuererhöhungen zurückzuführen sei.

 

Kretschmann muss zeigen, dass er für seine Mittelständler kämpft“

Was lässt sich daraus lernen? Genau: Vorsicht beim Thema Steuern! Auch Grünen-Wähler nehmen beim Gutestun ungern den Weg über das Finanzamt. Deshalb achten die Regierungs-Grünen in Baden-Württemberg inzwischen sehr darauf, keinen Anstoß in der bürgerlichen Mitte und den darüber liegenden Etagen zu erregen. Ministerpräsident Winfried Kretschmann hatte schon 2013 zur steuerpolitischen Zurückhaltung gemahnt, knickte dann aber um des lieben Friedens willen ein. Diesen Fehler wolle er nicht wiederholen, ließ Kretschmann jüngst verlauten. Soll heißen: Einem Steuerkonzept, das eine Vermögensteuer beinhaltet, stimmt er nicht zu. „Das ist eine Substanzsteuer, die Betriebe leicht gefährden kann.“

Kretschmanns Positionierung in der Steuerpolitik wird in der Wirtschaft aufmerksam verfolgt. So sagt Dietrich Birk, Geschäftsführer des Verbands der Maschinenbauer im Land, der Ministerpräsident möge sich als Vorsitzender der „Baden-Württemberg AG“ beweisen. „Er muss zeigen, dass er für seine Mittelständler kämpft, die Industrie, deren Wertschöpfung und die Beschäftigten“. Das bedeutet: keine Vermögensteuer und eine unternehmerfreundliche Ausgestaltung der Erbschaftsteuer. Da müsse er kämpfen – und auch liefern, heißt es in den Wirtschaftsverbänden.

Im Verhältnis zur heimischen Industrie durchlief der Ministerpräsident eine steile Lernkurve

Diese Forderung bringt den Ministerpräsidenten wieder in Konflikt mit seinem alten innerparteilichen Widersacher Jürgen Trittin. Der ehemalige Bundesvorsitzende der Grünen verweist darauf, dass die Nettoinvestitionsquote seit Langem unter zehn Prozent liege. 90 Prozent der Unternehmensgewinne würden angelegt, nicht in die Betriebe investiert. „Wir sollten nicht jedes Märchen glauben, das die Lobby der Superreichen erzählt, auch wenn sie sich selbst Familienunternehmer nennen“, sagt Trittin. Das klingt schon etwas lieblos in den Ohren Kretschmanns, der findet, man müsse „Gott danken, dass es die Familienunternehmen gibt“.

In seinem Verhältnis zur heimischen Wirtschaft, insbesondere der Industrie, durchlief der Ministerpräsident eine steile Lernkurve. Anfangs präsentierte er sich pädagogisch und voluntaristisch. Weniger Autos waren besser als mehr Autos, und weil Unternehmer und Manager nicht immer verstanden, dass moderne Umwelttechnik in die Zukunftsmärkte führt, musste auch mal die „Innovationspeitsche“ geschwungen werden. Doch auf solche Sprüche verzichtete Kretschmann bald, weil er erkannte, dass sie ihn machtpolitisch ins Aus geführt hätten: „Gegen die Wirtschaft kann man nicht regieren.“

Vor der Landtagswahl achtete Kretschmann besonders auf das Vertrauen der Wirtschaft

Diese Erkenntnis setzte Kretschmann konsequent um – bis hin zu jenem Landesparteitag vor knapp zwei Jahren, auf dem er die Grünen in der Nachfolge der CDU zur neuen Wirtschaftspartei in Baden-Württemberg erklärte. Cem Özdemir, immerhin Bundesparteichef, assistierte: „Wichtig ist, dass die gesamte Partei diesen wirtschaftsfreundlichen Geist atmet.“ Am Horizont zeichnete sich bereits verheißungsvoll die Landtagswahl im März 2016 ab. Zukunftsfähigkeit verhieß auch das Thema Digitalisierung, das der eher analog strukturierte Kretschmann auf die Regierungsagenda setzte. Die Reise mit großer Delegation ins Silicon Valley dürfte zu den erfolgreichsten Beispielen von politischer Selbstinszenierung in der jüngeren Landesgeschichte zählen. Die Wendung „Neulich im Silicon Valley . . .“ bereicherte in vielen Varianten noch lange danach Kretschmanns Reden.

Je näher die Landtagswahl rückte, umso sensibler reagierte das Staatsministerium auf alles, was die Wirtschaft in ihrem Vertrauen auf Kretschmann beeinträchtigen konnte. Als Verkehrsminister Winfried Hermann im VW-Abgasskandal die Frage anklingen ließ, ob womöglich noch andere Autohersteller mit manipulierender Software arbeiteten, intervenierte Daimler empört in der Regierungszentrale, die wiederum die Drähte ins Verkehrsministerium zum Glühen brachte. Auch die von Hermann in Analogie zum Sport vorgetragene Idee, mittels „unangekündigter Doping-Kontrollen“ die Abgaswerte im Straßenverkehr zu untersuchen, fand wenig Zuspruch. Sogar der Bundesverkehrsminister nahm später das Wort von den Doping-Kontrollen auf. Abgaskontrolle, heißt es nun in der Landesregierung, sei Sache des Bundes. Die Erleichterung ist groß.

Die Industriewelt bleibt Kretschmann fremd

Dabei kann niemand, der Kretschmann bei den zahlreichen Firmenbesuchen erlebt, eine innere Nähe zu industriellen Produktionsprozessen erspüren. Die Fabrikwelt bleibt Kretschmann fremd, seine Profession ist das Lehramt und seine Passion gilt der Pflanzenwelt. Meist schweigt der Ministerpräsident bei solchen Gelegenheiten. Besser gar nichts fragen, als durch eine dumme Frage die eigene Unkenntnis zu verraten.

Das mache aber nichts, sagt Andreas Richter, Hauptgeschäftsführer der IHK Stuttgart. Kretschmann sei eben einer, der nachdenke, nicht unüberlegt daherrede und eher auf Distanz bleibe. „Die Sprödigkeit zeigt er nicht nur gegenüber der Wirtschaft, die hat er ganz generell. Das ist für mich keine negative Eigenschaft. Er ist so, wie er ist.“ Kretschmann werde in der Unternehmerschaft respektiert, sagt Richter. „Man hält ihn für einen aufrechten Mann, der verlässlich ist und auch zuhört.“

IG-Metall-Chef kritisiert Kretschmanns Ausrichtung auf die Interessen der Arbeitgeber

Allerdings bedeutet dies nicht, dass die Wertschätzung automatisch auf die Partei übertragen werde. Zwar seien die Grünen „eine sehr bürgerliche und sehr konservative Partei geworden“, sagt Richter. Die Neigungen in der Metall- und Elektroindustrie gingen aber doch in eine andere Richtung. „Die Sehnsucht nach einer liberalen Stimme, die mehr auf Eigenverantwortung und Freiheit setzt, ist ungebrochen.“ Kretschmann ist in der Wirtschaft nicht so vernetzt wie Günther Oettinger (CDU), sein Vorvorgänger. Aber er lässt sich beraten von Managern und Firmenchefs. Zu seinen wichtigsten Einflüsterern gehört der Bosch-Aufsichtsratschef Franz Fehrenbach.

Unterdessen sieht der IG-Metall-Chef Roman Zitzelsberger Kretschmanns Wirtschaftspolitik zwar als „clever“, aber „manchmal zu sehr auf die Arbeitgeberinteressen ausgerichtet“. Der Ministerpräsident suche den Dialog mit der IG Metall, „aber man merkt schon, dass es eine stärkere Tendenz zu den Arbeitgebern gibt“.

„Kretschmann vertritt keine fundamentalistischen Öko-Interessen“

Tatsächlich lässt die sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Welt von Verteilungspolitik, Tarifpartnerschaft und Sozialstaat den Grünen ziemlich kalt. Kretschmann erkennt wie viele in seiner Partei in den Sozialversicherungsapparaten, die den Arbeitnehmern das Anrecht auf soziale Teilhabe und eine gewisse materielle Absicherung bieten, vorzugsweise monströse Bürokratien. Die Lust an Rententabellen und Tarifverträgen teilt er nicht. Vielleicht fehlt ihm da schlicht die persönliche Betroffenheit. Der IG-Metall-Chef Zitzelsberger, im Wirtschaftsleben des Landes ein machtvoller Player, hält dennoch viel von Kretschmann. Der Regierungschef sei „ein Pragmatiker, keiner der fundamentalistisch Öko-Interessen“ vertrete. Allerdings erkennt er bei den Grünen in Baden-Württemberg im Vergleich zur Bundespartei einen stärkeren wirtschaftsliberalen Einschlag.

Zitzelsberger sieht die Industrie des Landes grundsätzlich gut gerüstet für die Zukunft, vor allem die Großfirmen und die großen Mittelständler. Schwieriger könnte es für kleinere Zulieferbetriebe werden. Gelegentlich aufwallende Panikattacken, Baden-Württemberg mit seiner Konzentration auf den Fahrzeug- und Maschinenbau könnte das Ruhrgebiet von morgen werden, hält er für nicht gerechtfertigt. Was ihm aber fehlt, sei der Mut zur Anwendung von Zukunftstechnologien. Da vermisst er die Unterstützung der Politik. „Wir können nicht nur Anbieter von hochtechnologischen Systemen sein. Wir müssen der Welt auch zeigen, dass wir die Technik auch nutzen“, sagt Zitzelsberger. Baden-Württemberg müsse ein Anwendermarkt sein, egal, ob es um vernetzte, autonome oder elektrifizierte Fahren mit eigenen, geleasten oder mit anderen geteilten Autos gehe. „Alle Dinge müssen erlebbar sein.“

Über vernetzte Mobilität spricht Kretschmann beinahe so gerne wie über Hannah Arendt

In der vernetzten Mobilität könne die Landesregierung mehr tun. „Da wird viel geplant, aber die praktischen Schritte fehlen.“ Baden-Württemberg wäre ein ideales Einsatzfeld für die Vernetzung von Fahrzeugen, Verkehrsleitsystemen, von individuellem und öffentlichem Nahverkehr. „Die Landesregierung könnte das Land zum Vorzeige-Beispiel für solche technologischen Anwendungen machen.“

Kretschmann, der über vernetzte Mobilität beinahe so häufig und gerne redet wie über die Philosophin Hannah Arendt, dürfte es da in den Ohren klingeln. Denn Wirtschaftspartei muss man nicht nur sein wollen, man muss es auch leben.