Ein Mann hat über Jahrzehnte hinweg Jugendliche missbraucht. Den Hinweisen wurde nicht nachgegangen. Die Geschichte eines Opfers.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)
Stuttgart - Jetzt ist er tot, der Täter, der böse Schatten. Endlich, sagt Harry G., der als Jugendlicher vier Jahre lang von Helmut K. missbraucht worden ist: "Jetzt habe ich endlich Ruhe." Denn 30 Jahre lang haben Harry jene Übergriffe verfolgt. Der Missbrauch hat sich tief in seine Seele gebrannt, so tief, dass er eines Tages im Giebel seines neuen Hauses stand und sich erhängen wollte; dass er an anderen Tagen Pläne schmiedete, Helmut K. umzubringen. Jetzt ist es endlich vorbei.

Es gleicht einem Wunder, dass Harry darüber nicht zerbrochen ist. Denn schon sein Start ins Leben im Jahr 1958 war nicht gut gewesen. Seinen Vater kennt er bis heute nicht, und seine Mutter war bereits mit Harrys Halbschwester überfordert gewesen. Sie gab ihn weg, und er wurde von Heim zu Heim weitergereicht. Einmal sei er so lange in eine Kammer gesperrt worden, bis er dort gelernt habe, seine Schnürsenkel zu binden. Und öfter musste er zur Strafe in die Ecke stehen, das Gesicht zur Wand, was er schon als Kind als Demütigung empfunden hat.

Dennoch ist Harry überzeugt: "Ich hatte eine behütete Kindheit." Tatsächlich ist es beinahe so, als hätte Harry G., trotz allem, was ihm widerfahren sollte, einen Schutzengel gehabt. Die Schwestern in den Heimen hätten ihn bevorzugt, weil er so ein putziges Kind gewesen sei. In Stuttgart traf er ein Ehepaar, das ihn liebte wie ein eigenes Kind und das ihm sagte: "Egal, was geschieht, wir sind für dich da." Und Harry G. selbst besitzt so viel innere Stärke, dass er stets wieder aufstand, auch wenn er ganz am Boden lag. Dieser Schutzengel hat ihn gerettet.

Vier quälende Jahre


Mit 13 Jahren lernte er seinen späteren Vergewaltiger kennen. Das war 1974. Helmut K. arbeitete als Sozialarbeiter bei der Stadt Stuttgart und war stellvertretender Leiter eines Jungenheimes; dort war Harry untergebracht. Die Jugendlichen im Heim, die nachts schon mal einen Kiosk "plattmachten", himmelten den "Doc" an, wie alle zu ihm sagten. Denn K. war anders als die übrigen Sozialarbeiter. Er drückte ein Auge zu, wenn er sie beim Rauchen erwischte; er verschaffte ihnen Eintrittskarten für Konzerte; und wenn einer etwas gut gemacht hatte, lobte K. ihn vor allen anderen und nahm ihn väterlich in den Arm. Wie lechzten diese schweren Jungs, die doch so einsam waren, nach Anerkennung und Liebe. Gezielt hat K. dies ausgenutzt.

Bei Harry G. geschah der Missbrauch das erste Mal, als er bei einem Konzert von Santana als Ordner arbeitete - auch diesen Job hatte Helmut K. vermittelt. Da es spät werden würde, hatte der Sozialarbeiter im Heim Bescheid gegeben: Harry dürfe ausnahmsweise bei ihm zu Hause übernachten. Dort drängte er sich nackt an ihn, befummelte ihn und tat so, als ob er ihn aufklären wolle: "Ich hatte doch überhaupt keine sexuelle Erfahrung", sagt Harry G. heute. Seit seiner Therapie der letzten Jahre kann Harry offen über den Missbrauch und die Folgen reden - nur über die Einzelheiten der Taten schweigt er sich aus. Man sieht ihm an, wie die Bilder vor seinem inneren Auge vorüberziehen. Aber er erzählt nicht davon. Er will den Bildern nicht gestatten, noch einmal in die Gegenwart zu treten.

Helmut K. hat Harry kurz darauf aus dem Heim in eine Wohngemeinschaft geholt, die dem Jugendverein dj.1.11 gehörte; das Jugendamt zahlte Zuschüsse. Von dort aus habe es Harry näher zum Ausbildungsbetrieb, lautete die offizielle Begründung. Doch der Leiter der WG hieß Helmut K. Dort kam er jetzt häufig nachts in Harrys Zimmer, vier quälende Jahre lang.