Ein neuer Dokumentarfilm wirft Michael Jackson systematischen Kindesmissbrauch vor – seine Fans gehen auf die Barrikaden.

New York - Die Fans waren bestens vorbereitet auf den Sonntagabend, schließlich hatten sie mehrere Wochen Zeit gehabt, um die Geschütze in Stellung zu bringen für das TV-Ereignis, das drohte ihre Welt in den Grundfesten zu erschüttern. Bereits Ende Januar war die vierstündige Dokumentation „Leaving Neverland“ auf dem Indie-Filmfestival Sundance gelaufen und hatte die Spekulationen über Michael Jacksons angebliche Gewohnheit, minderjährige Jungen zu missbrauchen, nach Jahren der Ruhe erneut befeuert.

 

So hatten zum Ausstrahlungstermin Twitter-Sammelkonten wie #MJFam vermeintliche „Fakten“ gesammelt, mit deren Hilfe die Anhänger des Megastars auf dem Schlachtfeld der sozialen Medien Jackson verteidigen konnten. Der Nachlass von Jackson bot auf Youtube kostenlose Konzertvideos an, mit deren Hilfe man sich in eine heile Welt flüchten konnte. Und in London hatten Fangruppen sogar Werbebanner für Linienbusse gekauft, die Jackson in Schutz nahmen. Die Anstrengungen, das Image Jacksons zu schützen, fruchteten jedoch wohl nur bei jenen, die entschlossen sind, sich an jenes „engelhafte“ Bild ihres Idols zu klammern. Der nüchternere Teil der Öffentlichkeit befindet sich hingegen angesichts der Enthüllungen in einem Zustand des betroffenen Schocks.

Im Zentrum des vierstündigen Zweiteilers stehen Wade Robson und James Safechuck, die vor der Kamera in mitunter unerträglichem Detail erzählen, wie sie und ihre Familien in den Bann Jacksons gerieten und jahrelangen sexuellen Missbrauch durch den Superstar erduldeten, bevor sie auch nur die Pubertät erreichten. Beide Jungen gerieten Ende der 80er Jahre in Jacksons Gesichtsfeld, als sie noch deutlich jünger als zehn Jahre alt waren. Jackson holte sie samt ihrer Familien tief in seine privatesten Kreise. Sie wurden auf die Neverland Ranch eingeladen, gingen mit Jackson auf Tournee. Doch je mehr Jackson das Vertrauen der Familien gewonnen hatte, desto mehr trennte er seine Opfer von seinen Familien und zog sie immer tiefer in ein geheimes Leben perverser Intimität hinein.

Im Prozess erklärten beide, dass Jackson sie nicht missbraucht habe

Am schmerzhaftesten zu beobachten ist an dem Film, wie die Opfer bis heute mit ihrer fehlgeleiteten Zuneigung zu Jackson ringen. In einer beklemmenden Szene zeigt Safechuck den Filmemachern eine Schatulle teurer Ringe, die Jackson ihm geschenkt hatte. Safechuck beginnt zu zittern, die tiefe Verletzung des Verführten wird sichtbar, der in seiner Kindlichkeit dem Verführer sein Vertrauen geschenkt hatte. So berichten beide, dass es sich normal angefühlt habe, wie ein verlobtes Paar mit Jackson zusammen auf der Ranch zu leben und mit ihm das Bett zu teilen. Auch die zunehmenden sexuellen Intimitäten kamen ihnen nicht sonderbar vor, sondern wie eine Fortsetzung der kindlich-spielerischen Nähe. Man nimmt ihnen ab, dass sie tatsächlich so etwas wie Verliebtheit für Jackson empfanden. So ist es auch plausibel, dass die beiden lange Zeit brauchten, um den Missbrauch zu erkennen.

Noch in dem Prozess gegen Jackson 2004 hatten beide geleugnet, dass Jackson sie missbraucht hatte. Erst jetzt, da sie selbst Väter sind und Jahre der Therapie hinter sich haben, so ist in der Dokumentation zu hören, seien sie bereit, über die Vorgänge zu sprechen. Die Nachlassverwalter Jacksons, allen voran seine Mutter, haben derweil gar nicht die Ausstrahlung des Films abgewartet, um dagegen vorzugehen. Bereits kurz nach der Premiere auf dem Sundance Festival haben sie eine 88-Millionen-Euro-Klage gegen die Filmemacher eingereicht. Die Nachlassverwalter, die seit Jacksons Tod 1,8 Milliarden Euro an ihm verdient haben, wissen, was auf dem Spiel steht. Die Demontage von Jacksons Status als über-lebensgroße Popikone würde auch das Ende ihres Reichtums bedeuten.

Im Klima von #metoo könnte der Film schaffen, was zwei Prozesse nicht geschafft haben. So droht nach der Verhaftung von R. Kelly innerhalb kürzester Zeit die zweite Popgröße über Kindesmissbrauch zu stürzen. Amerika fragt sich derweil, warum es so lange nicht hat sehen wollen, was doch jeder hätte sehen können. Es verhalte sich mit Jackson nicht anders als mit R. Kelly, Harvey Weinstein oder Donald Trump, schreibt Matt Zoller-Seitz im „New York Magazine“. „Ihre Anhänger – inklusive der Eltern der Opfer – haben in ihrem Kalkül entschieden, dass der emotionale Nutzen aus der Bindung an ihr Idol wichtiger ist als der Schutz ihrer Opfer.“ Die Fans, die nun eine Wagenburg um Jacksons Erbe bauen, unterliegen noch immer diesem Kalkül.