Missbrauchskandal in Korntal Zum Leben verdammt

Detlev Zander hat den Missbrauch in den Heimen der evangelischen Brüdergemeinde in Korntal publik gemacht. Foto: dpa

Detlev Zander hat den Missbrauch in den Heimen der evangelischen Brüdergemeinde in Korntal publik gemacht. Am Donnerstag werden die Ergebnisse veröffentlicht.

Stuttgart - Dreieinhalb Zeilen, in Schreibschrift, auf einem linierten Blatt Papier: „Bitte seid nicht traurig, wenn ich mir jetzt das Leben nehm, aber ich kann nicht anders.“ Detlev Zander war 14, vielleicht auch 15, als er sich mit dem Gürtel erhängen wollte. Schmerz und Verzweiflung des Jungen über das, was ihm im Kinderheim der evangelischen Brüdergemeinde in Korntal (Kreis Ludwigsburg) angetan wurde, waren zu groß geworden.

 

2014, also knapp vier Jahrzehnte später, machte Zander publik, was ihn und andere damals so verzweifeln ließ. Vergewaltigung im Fahrradkeller, Prügel, Essen des Erbrochenen, physische, psychische, religiöse Gewalt. Geschehen in den Kinderheimen der pietistischen Brüdergemeinde sowohl in Korntal als auch in ihrer Schwestergemeinde in Wilhelmsdorf, verübt von deren Beschäftigten. Details und Hintergründe aus der Zeit von 1950 bis 1980 sind von dem Marburger Wissenschaftler Benno Hafeneger und der Frankfurter Juristin Brigitte Baums-Stammberger dokumentiert worden: Sie stellen ihre Forschungsergebnis am Donnerstag öffentlich vor.

Der Krankenpfleger wollte die Gemeinde auf 1,1 Millionen Schadenersatz verklagen

Für Detlev Zander ist dieser Tag eine Bestätigung. Bestätigung dafür, dass er und alle anderen ehemaligen Heimkinder nicht gelogen haben; dass sie recht daran taten, nicht geschwiegen zu haben, obwohl man ihnen ihrer Meinung nach oft genug signalisiert hatte, nach wie vor nichts wert zu sein. Zander, inzwischen 56, nennt sich selbst noch, wenngleich grinsend, „dummes Heimkind“ – wenn er ironisch davon erzählt, wie ihm die Vertreter der Brüdergemeinde nach wie vor begegnen.

Gleichwohl hat sich in den vergangenen vier Jahren viel getan. Inzwischen ist auch mal eine Plauderei mit der Gemeindeleitung möglich. Klaus Andersen steht mit dem Pfarrer an der Spitze der pietistischen Gemeinde, die ihren Ursprung in Korntal hat und staatskirchenrechtlich eine Freikirche ist. Andersen und Zander haben einen Umgang miteinander gefunden – wohl auch, weil die Gemeinde nicht mehr Zanders Millionenklage fürchten muss. Der gelernte Krankenpfleger hatte die Gemeinde im Mai 2014 auf 1,1 Millionen Euro Schadenersatz verklagen wollen.

Zander: „Wir haben die Gruppendynamik unterschätzt“

Zu dem Prozess kam es nie. Doch Zander hatte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Bei einem kleineren Betrag hätte sich doch niemand für die Geschichte interessiert, sagt Zander rückblickend. Damals, so sieht er es heute, war er getrieben von Hass und Wut: „Ich wollte es der Brüdergemeinde zeigen: Jetzt gehe ich mit dir so um, wie du mit mir vor 40 Jahren umgegangen bist.“ Das Gericht würde die Wahrheit schon ans Licht bringen. Dass die meisten Fälle verjährt waren, spielte für ihn keine Rolle. Für das Gericht schon, es lehnte einen Antrag auf Prozesskostenhilfe ab. Damit war der Prozess vom Tisch, nicht aber das Thema.

Zanders Image wird in dieser Zeit geprägt: Ein mittelloser Unsympath wittert das große Geld. Um das sei es nie gegangen, beteuerte Zander immer wieder. „Die Brüdergemeinde zerstören? Das schon.“ Entsprechend aggressiv und verbissen trat er auf. Die markante Brille, die Halbglatze, die laute Stimme unterstrichen die Wirkung. Zander fand Opfer der Brüdergemeinde. Der Druck auf die Gemeinde wuchs. Sieben Monate nach Publikwerden, im Dezember 2014, präsentierte die Erziehungswissenschaftlerin Mechthild Wolff die Fälle. Sie sollte die Aufarbeitung leiten. Vorbilder dafür gab es: etwa die Missbrauchsfälle im Berliner Canisius-Kolleg vier Jahre zuvor. Doch die Opfer wollten Mitsprache. Das war neu und funktionierte zunächst. Ein gutes Jahr später aber scheiterte das Projekt. Zu viele hatten Einfluss nehmen wollen. „Wir haben die Gruppendynamik unterschätzt“, sagt Zander.

Täter, Taten, Tatorte – alles war in der Öffentlichkeit

Die Wissenschaftlerin hatte aus Opfersicht zu großen Wert auf das Versagen der Institution gelegt, zu wenig auf die Taten selbst. Aber es lag auch an Zander selbst. Er hatte eine Schlüsselrolle, die er sich nicht nehmen lassen wollte. Die Betroffenen zerstritten sich, gemeinsame Erlebnisse zu Heimzeiten spielten plötzlich wieder eine Rolle. „Wir hatten keine psychologische Hilfe. Die hätten wir gebraucht“, sagt Zander. Vielleicht hätte es auch jemanden gebraucht, der ihm, dem Dominanten, zumindest zeitweise einen Platz in zweiter Reihe zugewiesen hätte.

Trotz des Scheiterns war der Brüdergemeinde klar, dass es einen neuen Anlauf zur Aufarbeitung geben musste. Zu viel war in der Öffentlichkeit. Täter, Taten, Tatorte. Der Pfarrer, der Lehrer, der Hausmeister, sie alle sollen sich an den Kindern vergriffen haben. Die Gemeinde musste einen Umgang mit dem dunklen Kapitel ihrer Geschichte der Heimerziehung finden, wollte sie nicht die Arbeit ihrer diakonischen Einrichtungen in der Gegenwart beschädigen. Zumal es immer noch Menschen gab – und gibt –, die den Opfern zum Vorwurf machen, so lange geschwiegen zu haben. Dabei schwingt der Vorwurf mit, angesichts der damals üblichen Erziehungsmethoden zu übertreiben, manches gar erfunden zu haben. „Früher hätte man uns nicht geglaubt. Wir waren die dummen, kleinen Heimkinder“, erklärt Zander das Schweigen. Und Eltern, denen sie sich hätten anvertrauen können, hatten sie nicht. Später verdrängten sie dann, um im Leben zu bestehen. „Wir wollten es zu etwas bringen, um eben nicht länger auf das Heimkind reduziert zu werden.“ Manche verzweifelten am Leben und wählten den Freitod.

Nicht jeder ist mit den Geldzahlungen an die Opfer zufrieden

Auch Zander verdrängte – bis sich das Unterbewusstsein 2013 Bahn brach. Er beschloss zu reden. Erst mit der Brüdergemeinde allein. Sie war ihm schließlich auch Heimat gewesen. „Und es war ja nicht alles schlecht: Wir hatten ein Schwimmbad, es gab dort Pferde.“ Erst als er sich nicht ernst genommen gefühlt habe, sei er an die Öffentlichkeit gegangen.

Nach dem Scheitern des Aufarbeitungsversuchs im Frühjahr 2016 engagierte die Brüdergemeinde zwei Mediatoren. Sie sollten die völlig zerstrittenen Betroffenen wieder an einen Tisch bringen. Die beiden agierten dabei nicht immer glücklich, auch etliche Opfer machten Druck. Manche waren alt, einige krank, sie wollten mit dem Kapitel abschließen. Am Ende hatten die Mediatoren zwar erreicht, dass weder Zander noch andere Betroffene aufbegehrten, aber nur wenige schätzten ihre Arbeit. Zudem rückte die Ankündigung der Brüdergemeinde in den Fokus, den Opfern in Anerkennung ihres Leids zwischen 5000 und 20 000 Euro zu bezahlen. Das Geld haben die Opfer inzwischen erhalten. Basis für die Zahlungen sind die Gespräche, die Brigitte Baums-Stammberger seit gut einem Jahr mit mehr als 100 Opfern geführt hat.

Dass nicht jeder mit den Geldzahlungen zufrieden sein würde, war von vornherein klar. Doch nun ist offen, ob sie nicht abermals aufbegehren, wenn sich bewahrheitet, was im Raum steht. Die Brüdergemeinde soll damals Taten vertuscht, ihre Schutzbefohlenen also wissentlich den Tätern ausgesetzt haben. Wenn das stimmt, so Zander, müsste die Brüdergemeinde deutlich mehr bezahlen. Er selbst erhielt 20 000 Euro. „Ich hab’s zur Kenntnis genommen, wirklich gefreut habe ich mich darüber nicht.“ Eine neue Brille und Kontaktlinsen habe er sich gekauft, sagt der Mann, der heute Hartz IV empfängt.

„Wie kann man oben beten und unten im Keller foltern?“

Zander ist ruhiger geworden, seit es ruhiger um ihn geworden ist. „Draufgehauen habe ich lange genug.“ Er hat sich intensiv mit dem Thema Missbrauch in Institutionen befasst. „Ich will mich für die Prävention starkmachen. Kein Kind soll Ähnliches widerfahren, nur weil kein anderer hingeschaut hat. Auch in Korntal nicht.“ Er ist nach dem Opferentschädigungsgesetz anerkannt, kann sich Therapien leisten. Seine bislang letzte liegt wenige Wochen zurück. Wieder war ein Zusammenbruch vorausgegangen. „Ich habe inzwischen akzeptiert, dass ich krank bin“, sagt der 56-Jährige. Der Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente ist gestellt. „Meine Lebensleistung ist, dass ich an die Öffentlichkeit gegangen bin“, sagt er rückblickend. Die Kernfrage aber sei noch immer unbeantwortet: „Wie kann man oben beten und im Keller foltern?“

Mag sein, dass er die Antwort am Donnerstag erhält. Weder Zander noch die Brüdergemeinde, so heißt es, werden vorab den Inhalt der Dokumentation erfahren.

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