Er war ein beliebter Kindergartenleiter, organisierte Ausflüge, Waldheime und Kindergeburtstage. Doch jahrelang soll ein 31-jähriger Heilbronner einen Buben missbraucht haben. Jetzt steht der Mann vor Gericht. Und auch Polizei und Kirche stehen in der Kritik.

Baden-Württemberg: Eberhard Wein (kew)

Heilbronn - Vor dem Gebäude des Heilbronner Landgerichts hat sich das Antipädobär-Team postiert – zwei Aktivisten, die mit komischen Hüten und einem Teddybären von Kinderpornoprozess zu Kinderpornoprozess tingeln. „Heilbronner Kirche versagte schlimmer als Freiburger Pädo-Mama“, heißt es in Anspielung auf den Missbrauchsfall in Staufen. Drinnen wird derweil ein junger Mann in Handschellen in den Saal geführt. Er ist leicht übergewichtig, hat kurze Haare und trägt eine Brille, sein großes blaukariertes Hemd schlabbert über seiner Jeans. Als er im Blitzlichtgewitter zu seinem Platz geführt wird, scheint er nach Luft zu schnappen. Dann spricht ihn die Richterin an, und seine Stimme ist fest und ruhig. Ja, er wolle aussagen, kündigt er an.

 

Insgesamt 19 Mal und über fünfeinhalb Jahre hinweg, so listet es die Anklageschrift auf, soll sich der junge Mann an einem zunächst sieben- und heute 13-jährigen Buben vergangen haben. Die Übergriffe, von denen ein Teil als Vergewaltigungen zu werten sind, spielten sich meist in der Wohnung des Angeklagten ab. Die Eltern kannte er aus dem Kindergarten, in dem er arbeitete, und von einem Büchercafé. Sogar über Nacht und für einen Ausflug in den Europapark vertrauten sie ihm das Kind an. Achterbahnfahrten seien sein Hobby, erklärte der Angeklagte vor Gericht. Doch in der Nacht kam es im Hotel des Freizeitparks auch zum Missbrauch.

Eine Auszeichnung von ganz oben

Gewalt wandte der Mann wohl nicht an, doch die Kinderseele dürfte nachhaltig verletzt sein. Der Fall hat aber auch bei zahlreichen Heilbronner Eltern Ängste ausgelöst. Und er stürzte die evangelische Kirche in eine Krise. Jahrelang hatte sie den Mann als Erzieher beschäftigt, zuletzt leitete er einen Kindergarten. Vor vier Jahren hat ihn sogar das Bundesfamilienministerium ausgezeichnet. Er galt als Vorzeigekraft. Zudem war er ehrenamtlich in der Jugendarbeit engagiert, organisierte Waldheime und Geburtstagsfeiern. Inzwischen ist klar: er führte ein Doppelleben.

Davon spricht auch sein Anwalt, als er vor Prozessbeginn ein umfassendes Geständnis ankündigt. Es wird am nächsten Prozesstag in der kommenden Woche erwartet. Dann wird auf Wunsch der Nebenklagevertreterin die Öffentlichkeit voraussichtlich ausgeschlossen. Sie hatte dies bereits für die Anklageverlesung gefordert, doch das Gericht entschied anders. Das Interesse der Öffentlichkeit sei in diesem Fall höher zu gewichten als das Schutzbedürfnis des Opfers, sagte die Vorsitzende Richterin. Eine unnötige Bloßstellung des Kindes könne auch durch eine verantwortliche Berichterstattung verhindert werden.

Die Polizei lässt sich Zeit

Tatsächlich gibt es in dem Fall Pannen, die die Öffentlichkeit bewegen. Verdeckte Ermittler der Kripo Hannover waren schon im Februar 2016 auf den Angeklagten aufmerksam geworden, der im Internet zwölf Dateien mit kinderpornografischen Bildern getauscht hatte. Bei einer Hausdurchsuchung beschlagnahmten die Heilbronner Kollegen den Computer des Mannes. Auf der Festplatte befanden sich 10 000 Bilddateien und hunderte Videos.

Doch die Sichtung des Materials, das den Missbrauch von vornehmlich vier- bis zwölfjährigen Buben zeigt, dauerte mehr als ein Jahr. Dass der Mann tagtäglich mit Kindern arbeitete, blieb unberücksichtigt. Man habe den Beruf zunächst gar nicht ermittelt, räumte die Polizei später ein. Erst im vergangenen Herbst erfuhr die Kirchengemeinde als Arbeitgeber von den Anschuldigungen. Doch der Kirchenpfleger unternahm nichts. Erst im Januar 2018 – mittlerweile war Anklage wegen der Kinderpornografie erhoben worden – vereinbarte er mit dem Angeklagten einen Aufhebungsvertrag. Bis August sollte er weiter Lohn kassieren. Kurz darauf meldete sich der Vater des missbrauchten Jungen bei der Polizei und äußerte seinen Verdacht. Erst da fanden die Ermittler unter den beschlagnahmten Missbrauchsdateien auch solche, die den Angeklagten und den Buben zeigen.

Der Kirchenpfleger wird suspendiert

Die Kirchengemeinde setzte mittlerweile ein Krisenteam ein, um den Fall aufzuarbeiten, suspendierte den Kirchenpfleger und kündigte dem Angeklagten im März fristlos. Allerdings wehrt sich der 31-Jährige, der seit März in Untersuchungshaft sitzt, vor dem Arbeitsgericht dagegen.