Zwar freut sich der Beauftragte der Bundesregierung über die Einrichtung einer unabhängigen Kommissioin zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch. Aber Johannes-Wilhelm Rörig entbindet die Beteiligten auch in Korntal nicht davon, bei der Aufklärung mitzuwirken.

Korntal-Münchingen - Es hat Jahre gedauert, bis in Korntal ein Gespräch der Opfer von sexuellem Missbrauch im Kinderheim mit den Verantwortlichen der Brüdergemeinde möglich wurde. Johannes-Wilhelm Rörig wundert die späte Aufarbeitung nicht. Aber auch für den Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung ist unerklärlich, dass das Thema erst jetzt öffentlich wurde.
Herr Rörig, mehr als 200 Bewerbungen für einen Sitz im Betroffenenrat sind eingegangen. Das 15-köpfige Gremium berät Sie, bezieht Position und macht eigene Vorschläge . Sind Sie überrascht über diese hohe Beteiligung – oder eher erschrocken über die noch immer riesige Betroffenheit?
Ich habe mich sehr über die große Anzahl der Bewerbungen gefreut. Das zeigt, dass viele Betroffene bereit sind, sich für die Belange anderer Betroffener einzusetzen. Wir haben versucht sicherzustellen.
Einer der Bewerber war Detlev Zander, der die Aufarbeitung in Korntal maßgeblich vorangetrieben hat. Wie viel von Korntal bekommen Sie in Berlin mit?
Wir verfolgen das, was in der Presse veröffentlicht wird, vor allem seit die Kommission unter dem Vorsitz von Professorin Mechthild Wolff eingesetzt wurde. Zudem nahmen Betroffene Kontakt zu uns auf.
Gehen Ihnen die Bemühungen in Korntal weit genug oder sehen Sie Nachholbedarf?
Ich begrüße sehr, dass nun eine Kommission eingesetzt worden ist, die von einer unabhängigen Wissenschaftlerin geleitet wird, die sich seit Jahrzehnten mit dem Themenfeld befasst. Ich gehe davon aus, dass die Grundlagen für einen guten Aufarbeitungsprozess mit der Wahl von Professorin Wolff jetzt gegeben sind.
Mechthild Wolff saß schon als Expertin am Runden Tisch. Nun kommt die Unabhängige Kommission. Überwiegt die Freude über den Parlamentsbeschluss oder der Frust, dass das erst so spät geschieht?
Wenn man sich die Prozesse in den anderen Ländern ansieht, befinden wir uns noch im grünen Bereich. Der Runde Tisch selbst war noch keine Aufarbeitungskommission und hatte leider keine Empfehlungen für eine unabhängige Aufarbeitung ausgesprochen. Wir haben seither intensiv daran gearbeitet, um im Parlament ein Verständnis dafür zu schaffen, dass die unabhängige Aufarbeitung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und dringend erforderlich ist. Das ist mit der ersten Behandlung des Antrags am 30. Januar 2015 geschehen. Über diesen entscheidenden Schritt bin ich sehr froh.
Diese Woche wurde bekannt, dass auch der Fonds für die Opfer der Heimerziehung West aufgestockt wird. Kommt das nicht zu spät, zumal sich früh ein Ansturm abzeichnete?
Offensichtlich konnte zu Beginn der Fonds nicht eingeschätzt werden, welche Finanzmittel bereit gestellt werden müssen. Die Nachfrage zeigt, wie viele Menschen dringend diese wichtige Hilfe benötigen. Ich begrüße es sehr, dass die beiden Fonds jetzt aufgestockt sind, alles andere wäre nicht zu rechtfertigen gewesen.
Deutschland beginnt vergleichsweise spät aufzuarbeiten. Oder täuscht der Eindruck?
Es hat tatsächlich Jahrzehnte gebraucht, bis die politische Relevanz des Missbrauchs in der Politik angekommen ist. Wenn man sich überlegt, dass sich die Frauenbewegung schon seit den 1970er Jahren gegen Missbrauch stark gemacht hat, ist es aus heutiger Sicht wirklich schwer nachvollziehbar, dass erst 2010 das Thema in der breiten Öffentlichkeit aufgenommen wurde. Es war wohl die besondere Situation, dass erwachsene Männer erstmals ihr Schweigen brachen und ein Kirchenmann, Pater Mertes, von innen eine Tür aufstieß und die Skandale öffentlich machte.
Wenn es zur Aufklärung den Mut Einzelner bedarf, fehlt offenbar die Struktur dafür.
Ja. Es wird auch für die Unabhängige Aufarbeitungskommission nach dem Willen der Regierungsfraktionen keine gesetzliche Grundlage geben, dennoch bin ich davon überzeugt, dass dieser Schritt ein richtiger und wichtiger ist. Es gab für das Thema bisher keine Zuständigkeit auf Bundesebene. Deshalb habe ich so beharrlich an allen Türen angeklopft, bis der Wille des Deutschen Bundestags klar artikuliert war, eine unabhängige Aufarbeitung zu wollen und die Mittel zur Verfügung zu stellen. Ich gehe davon aus, dass die Kommission im Januar 2016 ihre Arbeit beginnt.
Die Aufarbeitungskommission kommt spät.
Das ist ein wichtiger Diskussionsprozess gewesen. Nun ist die Politik so weit, den Schritt hin zu einer unabhängigen Aufarbeitungskommission zu gehen. Dazu hat die große Koalition eine Aussage im Koalitionsvertrag getroffen. Aufarbeitung ist ein gesellschaftlicher und politischer Prozess. Das muss gewollt sein. Das geht nicht von heute auf morgen.
Die Kirchen kooperieren mit Ihnen. Doch welchen Beitrag leisten sie bisher?
In der katholischen Kirche hat es in den vergangenen fünf Jahren ein beachtliches Bemühen um Prävention, Fortbildung und Aufarbeitung gegeben. Wenn Sie sich allein den Bericht zum Benediktinerkloster Ettal anschauen oder die Wiederaufnahme des gescheiterten Pfeiffer-Projekts…
… der Kriminologe sollte den Missbrauchs-Skandal in der katholischen Kirche untersuchen, es kam zum Streit der Beteiligten ...
… wichtig ist, dass die Studie jetzt nicht im Sande verlaufen ist, sondern wieder aufgenommen wurde. Im protestantischen Bereich gab es einen großen Bericht in der Nordkirche. Die ersten Schritte sind also in den Kirchen gegangen worden, es liegt aber noch viel Arbeit vor den Verantwortlichen. Die Unabhängige Kommission will diese Verantwortung den Einrichtungen nicht abnehmen. Sie wird bereits vorliegende Berichte auswerten und dokumentieren, aber auch Standards erarbeiten, die bei der Aufarbeitung beachtet werden sollten.
Warum ist eine Aufarbeitung auf Augenhöhe so schwer?
Täter- und Institutionsschutz stand bisher oft vor Opferschutz. Es wurde in der Vergangenheit viel vertuscht oder verschwiegen, um den Ruf der eigenen Einrichtung zu schützen. Hier muss ein umfassendes Umdenken stattfinden. Vertrauen muss zurückgewonnen werden. Dies geht nur durch ernst gemeinte Aufarbeitung und einen Dialog auf Augenhöhe.
Missbrauch ist trotz aller Schutzvorkehrungen immer noch möglich...
Kitas, Schulen und Vereine müssen deshalb Schutzkonzepte einführen. Fachkräfte brauchen ein Basiswissen zu Missbrauch, es braucht klare Regeln zum Nähe und Distanz und zum Handeln bei Vermutung und Verdacht. Kinder müssen in der Schule oder in der Kita kompetente Ansprechpersonen finden, die ihnen helfen.
Bisherige Präventionsangebote sind also noch nicht ausreichend implementiert?
Nein. In der stationären Unterbringung, in Heimen oder Internaten, sind Schutzkonzepte recht weit entwickelt. In Schulen und Kitas gibt es aber oft erst Einzelmaßnahmen und nur selten umfassende Schutzkonzepte. Ich diskutiere derzeit mit den Kultusministerien, wie in Schulen Schutz und Prävention gelebter Alltag wird.