Die ehemaligen Heimkinder lassen sich nicht beirren, sie halten an der Aufarbeitung der Vorfälle in den Kinderheimen fest, auch wenn das Projekt zunächst gescheitert ist.
Korntal-Münchingen - So geht es nicht. So nicht.“ Detlev Zander klingt am Tag danach kampfeslustig. Er selbst aber weist allzu aggressive Wortwahl von sich. „Es geht mir um die Aufarbeitung“, sagt er. Aber er lässt keinen Zweifel daran, dass er das Verhalten der evangelische Brüdergemeinde Korntal nicht hinnehmen wird. „Es muss doch weitergehen.“ Er hat inzwischen Kontakte zu Fachleuten auf Landes- und Bundesebene geknüpft, die ihm und seinen Mitstreitern nun hilfreich sein können.
Zander lässt sich nicht beirren von der Tatsache, dass die Aufarbeitung von physischer und psychischer Gewalt in den Kinderheimen der evangelischen Brüdergemeinde Korntal in den 1940er Jahren bis in die 70er Jahre wieder am Anfang steht.
Gespräche im Hintergrund
Viele dieser Gespräche werden im Hintergrund geführt. Die Menschen helfen – und schweigen. Man kennt sich, die Szene der Fachleute ist nicht allzu groß, denn das Thema Missbrauch in Kinderheimen ist hierzulande noch jung. Irland, USA, Australien oder Kanada befassen sich seit mehr als 20 Jahren mit deren Aufarbeitung.
Ein Jahr lang hatten ehemalige Heimkinder und Vertreter der Brüdergemeinde ein Konzept zur Aufarbeitung erstellt. Was ursprünglich lediglich eine Dokumentation der Historie werden sollte, entwickelte sich unter der Leitung der Wissenschaftlerin Mechthild Wolff zu einem Projekt, das in seiner Komplexität seinesgleichen sucht, wenigstens im süddeutschen Raum. Die Betroffenen hatten nicht nur die historische Aufarbeitung gefordert, sondern etwa auch die Pietisten zu einer geistlichen Aufarbeitung gedrängt. Diese stimmten zu – ehe dann diese Woche in weiten Teilen die Rolle rückwärts folgte. Erst warfen Wolff und ihr wissenschaftliches Team hin, dann erklärte die Brüdergemeinde die Aufarbeitung für gescheitert. Schuld seien allein die Betroffenen, stellten die Pietisten ihre Sicht der Dinge dar.
„Unser Vertrauen in die Akteure der ehemaligen Heimkinder in der Steuerungsgruppe ist aufgebraucht“, sagt der Vorsteher Klaus Andersen. Das Maß an persönlicher Diffamierung seitens der Betroffenen gegen Wolff und die Gemeindevertreter sei überschritten. „Das hinterlässt bei uns nicht den Eindruck, dass eine gemeinsame Aufarbeitung möglich ist.“
Lange Diskussion um Steuerungsgruppe
An der Steuerungsgruppe – sie hat die Aufarbeitung konzipiert – hatte sich schon lange immer wieder Streit entzündet, intensiv aber seit Dezember, als klar wurde, dass die mit Brüdergemeinde- und Opfervertretern besetzte Gruppe mit der Dimension des Projekts überfordert war.
Anfangs waren die drei Betroffenenvertreter – unter ihnen Zander – aus den eigenen Reihen attackiert worden, später mündete das in massiver Kritik der Betroffenen an Wolff. Was als Betroffenenbeteiligung gedacht war, provozierte zunehmend Streit unter den untereinander zerstrittenen Ex-Heimkindern. Letztlich bildeten sich daraus zwei Opfergruppen heraus.
Damit war der Dissens in Strukturen gegossen, doch seitdem herrscht Klarheit unter den Betroffenen, die eine Annäherung in der Sache ermöglichen könnte. „Uns eint doch das Ziel“, sagt etwa Hans-Jürgen Wollschlaeger von der AG Heimopfer Korntal und meint damit die Aufarbeitung, Befriedung und Zahlung von Anerkennungsleistungen. Ein Streit hatte ihn und Zander einst auseinander gebracht. Zander hatte den Missbrauch öffentlich gemacht und steht heute für das Netzwerk Betroffenenforum. „Die Brüdergemeinde sitzt das sonst aus“, befürchtet er wenn es nicht schnell weitergehe. Die Blöße, nach dem Rückzug der Wissenschaftler wieder als Opfer dazustehen, werden sie sich nicht geben, ist sich Zander sicher. Das Selbstbewusstsein haben sie vergangenes Jahr mit Hilfe Wolffs gewonnen. Das verringert seine Wut auf Wolff nicht, seit sie erklärte, sich auf die wissenschaftliche Aufarbeitung zu konzentrieren. Akademikerkollegen sollen sie dazu gedrängt haben – um der Neutralität der Forschung willen.
Aktionen und Akteure
Die Betroffenen:
Detlev Zander hat als Erster im Frühjahr 2014 öffentlich von sexuellem Missbrauch, Prügelorgien und Zwangsarbeit in einem Kinderheim der evangelischen Brüdergemeinde Korntal berichtet, wo er zwischen 1963 und 1977 lebte. Daraufhin meldeten sich weitere Betroffene aus den beiden Kinderheimen im Ort; sie sind untereinander zerstritten. Wie viele Opfer es gibt, ist unklar. Ebenso unklar ist, in welchem Maße die Bürger des Ortes etwas gewusst haben müssen. Eine telefonische Meldestelle, an die sich Betroffene wenden können, ist zwar vor wenigen Wochen eingerichtet worden – allerdings unter der Leitung der Landshuter Erziehungswissenschaftlerin Mechthild Wolff. Aber sie und ihr wissenschaftliches Team haben diese Woche aufgegeben. Nachdem daraufhin auch die Brüdergemeinde eine gemeinsame Aufarbeitung in Frage gestellt hat, ist offen, wie es weitergeht.
Die Evangelische Brüdergemeinde Korntal:
Nach Korntal ziehen konnten zunächst nur Mitglieder der Brüdergemeinde. Mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 wurden die Korntaler Sonderrechte zum Großteil aufgehoben. Ein Vertrag regelt das Verhältnis der Kirchengemeinde zur Landeskirche. Mitglieder der Brüdergemeinde sind zugleich Mitglieder der Landeskirche. Doch wenn die Mitglieder in Korntal wohnen, zahlen sie keine Kirchensteuer, sondern einen Beitrag direkt an die Gemeinde. Eben wegen der vertraglichen Verbundenheit schaut auch die evangelische Landeskirche auf die Aufarbeitung in Korntal. Die Landeskirche zahlt Opfern in ihren Einrichtungen im Einzelfall bis zu 5000 Euro. Einen Missbrauchsbeauftragten wie die Katholische Kirche hat die Evangelische Kirche auf Bundesebene nicht.